Im Totengarten (German Edition)
gehabt: ihr Außenseitertum. Eine Gruppe Sonderlinge – schlechtgekleidet, pickelig, zu dick oder zu dünn und viel zu schüchtern, um direkt in die Kamera zu sehen. Jeder Einzelne von ihnen bildete eine Zielscheibe gesellschaftlichen Spotts. Will war kreidebleich und wirkte total abgelenkt. Er interessierte sich schon auf dem Bild mehr für das Gespräch in seinem Kopf als für die Unterhaltungen um ihn herum. Im Gegensatz zu ihm wirkte Morris Cley total entspannt und winkte dem Fotografen fröhlich zu. Vielleicht hatte er im Kreis all dieser Menschen, die so einsam wie er selbst gewesen waren, zum ersten Mal im Leben das Gefühl gehabt, irgendwo zu Hause zu sein. Der strahlende Mittelpunkt der Gruppe war Suzanne Wilkes. Es hatte ihr eindeutig Spaß gemacht, verlorene Seelen zu behüten, und sie hatte kein Gespür für die damit verbundene Gefahr gehabt.
Zum Glück war Angie nirgendwo zu sehen, als ich aus meinem Zimmer kam. Denn ich war nicht in der Stimmung für ein endloses Gespräch, während ich beim Frühstück saß, und hatte auch kein Interesse daran, dass mir irgendwer erklärte, wie ich meine Zeit verbringen sollte, weil meine geplanten Unternehmungen zu gefährlich waren.
An dem Tag war PC Meads mein Bodyguard, doch es fiel mir schwer, mir vorzustellen, dass er mir viel nützen würde, käme es tatsächlich hart auf hart. Er guckte so ängstlich wie ein Kind an seinem ersten Tag auf der Gesamtschule, als er im Frühstücksraum erschien.
»Ich muss einiges erledigen«, erklärte ich, und er atmete erleichtert auf.
Er war immer dankbar, wenn ihm jemand sagte, was er machen sollte, weil ihm dann kein Fehler unterlief. Ich schob ihm das Blatt mit der Adresse hin, auf die ich im Archiv gestoßen war. Hätte Burns gewusst, wen ich besuchen wollte, hätte er wahrscheinlich einen neuerlichen Herzinfarkt gekriegt.
»Ich muss einen alten Freund besuchen«, sagte ich. »Aber es ist nicht weit.«
Er lief eilig los, holte den Wagen, und bereits nach wenigen Minuten fuhren wir am Fluss entlang. Während wir in einem Stau auf der Uferstraße standen, fuhr gerade ein riesengroßer, mit Containern vollbeladener Frachter auf dem Weg in die Karibik oder nach Amerika unter der London Bridge hindurch. Ich machte die Augen zu und versuchte, mir vorzustellen, wochenlang über das offene Meer zu fahren und keine anderen Sorgen als den Wechsel der Gezeiten zu haben und dass hoffentlich das Wetter hielt. Dann fuhren wir an langen Häuserzeilen, die noch auf ihre Luxussanierung warteten, mit Graffiti verzierten Bäumen und mehreren ausgebrannten PKWs vorbei ins Herz von Bermondsey.
»Sie können hier warten«, sagte ich zu Meads, als ich in einer Seitenstraße der Jamaica Street aus dem Wagen stieg. Gardinen bewegten sich hinter den Fenstern heruntergekommener Reihenhäuser, und die ganze Nachbarschaft schien sich zu fragen, welcher männliche Bewohner ihres Viertels dieses Mal in Schwierigkeiten war. Ich bog um die Ecke in die Keeton’s Road. Es war eine schmale Straße mit niedrigen Häusern aus den Siebzigern unweit der U-Bahn-Station Bermondsey, und hundert Meter weiter dröhnte der Verkehr auf einer vierspurigen Straße, auf der man nach Elephant and Castle kam.
Das Haus hatte schon bessere Zeiten erlebt. Das Sicherheitsglas in der Kunststofftür wies ein paar breite Risse auf, und abgesehen von ein paar dicken Brombeerranken, die den Weg zur Haustür überwucherten, hatte nicht eine Pflanze in dem winzig kleinen Vorgarten den Frost der letzten Wochen überlebt. Ich umklammerte die Sprühdose in meiner Tasche und drückte mit wild klopfendem Herzen auf den Klingelknopf. Wenn er komisch reagierte, könnte ich ihm ins Gesicht sprühen, auf dem Absatz kehrtmachen und fliehen.
Er zog die Tür nur ein paar Zentimeter auf und spähte mit argwöhnischen, deformierten grauen Augen durch den Spalt.
»Hallo, Morris«, grüßte ich, und er nestelte nervös an der Sicherheitskette herum.
Er war immer noch das Gegenteil von einem Beau. Seine schmuddelige blaue Strickjacke hatte die besten Zeiten hinter sich, und sein stets offener Mund drückte beständiges Erstaunen aus.
»Alice Quentin«, sagte er so verzückt, als hätte er meinen Besuch seit Wochen beim lieben Gott erfleht.
»Darf ich reinkommen?«
Das Erste, was mir in der Wohnung auffiel, war der überwältigende süßliche Geruch eines Raumerfrischers oder Parfüms. Eine große Schale Potpourri stand auf dem Tisch im Flur, und zwei weitere waren im Wohnzimmer
Weitere Kostenlose Bücher