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Im Totengarten (German Edition)

Im Totengarten (German Edition)

Titel: Im Totengarten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Rhodes
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Am schlimmsten aber waren sie in meinem Nacken und an meinem Hinterkopf. Es fühlte sich an, als wäre ich eine lange Treppe hinuntergestürzt und dabei mit dem Schädel auf jede Stufe aufgeschlagen. Nicht einmal mit offenen Augen konnte ich was sehen. Meine Lider kratzten, wenn ich sie bewegte, leicht an irgendeinem Stoff.
    Inzwischen war ich hellwach und atmete mühsam ein und aus. Etwas Bitteres steckte in meinem Mund, das meine Zunge nicht bewegen konnte, trocken und rau wie Stroh.
    Mich durchzuckte die Erkenntnis, was passiert war. Es würde mir wie dem Crossbones-Mädchen gehen. Und dann würde jemand anders die Plastikfolie aufschlagen und all die Narben sehen. Eine haushohe Woge der Panik schlug über mir zusammen und drückte mich nach unten, ganz egal, wie sehr ich mich darum bemühte, weiter auf der Welle zu treiben, und ich wand mich wie ein Fisch, der an einer Angel hing.
    Meine erste Reaktion darauf war heiße Wut. Es war meine eigene Schuld. Ich hätte entweder bereits im Haus ein Taxi bestellen oder von Alvarez verlangen sollen, mich zurück in mein Hotel zu fahren. Wer weiß, wie lange ich besinnungslos gewesen war. Vielleicht lag ich schon seit Stunden oder Tagen hier. Ich versuchte, die verschiedenen Puzzleteile in Gedanken zu sortieren und auf diese Weise zu begreifen, was geschehen war. Anscheinend war mir irgendjemand bis zu Alvarez gefolgt. Vielleicht hatte er sich in der Dunkelheit versteckt, uns beim Liebesspiel durchs Fenster zugesehen und sich dann von hinten an mich angeschlichen und mir einen Hieb verpasst, während ich mein Handy aus der Tasche ziehen wollte. Alvarez hatte wahrscheinlich keine Ahnung, was passiert war. Dabei war er bestimmt noch wach, starrte an seine Zimmerdecke und suchte nach einer Erklärung dafür, was zwischen uns geschehen war.
    Während sich meine Gedanken überschlugen, tauchte urplötzlich Michelles geschundenes Gesicht vor mir auf. Ich konnte das Netz ordentlicher Schnitte von einem Rasiermesser oder Skalpell und das auf ihren Wangen und der Stirn getrocknete Blut erschreckend deutlich vor mir sehen. Und jetzt würde es mir genauso gehen. Plötzlich bekam ich keine Luft mehr. Der Knebel in meinem Mund blockierte meine Atmung, und ich spürte, wie die Gallenflüssigkeit meine Speiseröhre hochkam. Ich lauschte angestrengt auf irgendwelche Schritte, doch um mich herum herrschte vollkommene Stille. Offenbar hatte er mich in irgendeinem tiefen Loch verscharrt. Vielleicht wäre ich ja längst erstickt, bevor er wiederkäme, und er könnte sich nicht mehr an seinen widerlichen Schnippeleien erfreuen.
    Ich trat panisch um mich, aber meine Knöchel waren gefesselt, und als ich versuchte, meine Arme zu bewegen, schnitt auch dort ein Seil in meine Haut. Trotzdem schwang ich meine Arme über meinen Kopf, bis ich mit den Händen gegen eine offenkundig durch Gewichte zusätzlich beschwerte dicke Holzwand stieß. Nicht mal wenn ich wie ein Muli ausgetreten hätte, hätte sich das Ding bewegt. Ich drehte mich mühsam auf die Seite und streckte erneut die Arme aus, bis ich mit den Fingerspitzen gegen eine zweite raue, splitterige Holzwand stieß. Ich war in eine Holzkiste, zwei- oder dreimal so groß wie ein normaler Sarg, gesperrt, und das einzige Werkzeug, das ich hatte, um daraus zu fliehen, war mein Gehirn. Ich versuchte, langsamer zu atmen, aber es gelang mir nicht. Doch wenn ich hyperventilierte, würde ich bestimmt bald ohnmächtig und hätte keine Möglichkeit zur Gegenwehr, wenn der Kerl mit seinem Messer kam.
    Wenn man nicht sprechen, nicht sehen und sich nicht bewegen kann, wird dadurch alles andere intensiviert, und auch die Zeit dehnt sich in ungeahntem Maße aus, so, als zöge jemand wie in Zeitlupe einen Posaunenzug heraus. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich wieder ein kleines Mädchen war. Irgendwas jedoch zog mich gnadenlos in die Vergangenheit zurück. Vielleicht der Geruch der abgestandenen Luft, des Staubs und der Gestank der Angst, der mich umgab.
    Plötzlich sah ich meinen Vater, der sich seinen ersten Drink genehmigte, kaum dass er durch die Tür gekommen war. Er nahm immer das denkbar grässlichste Gebräu, Kochsherry oder den billigsten Wein, denn der Geschmack war ihm egal. Weil er nicht zum Vergnügen, sondern zur Betäubung trank. Aus den Ecken meiner Kiste drangen die Erinnerungen auf mich ein. Das Schwanken meines Vaters, wenn er wieder mal betrunken war. Ein kleiner Mann, der jemand noch Kleineren suchte, den er dafür bestrafen

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