Im Totengarten (German Edition)
stellte anerkennend fest: »Gut gewählt. Den Rioja hat mein Vater letzten Sommer mitgebracht. Er ist der festen Überzeugung, dass es hier in England nichts zu trinken gibt.«
Während eines Augenblicks sah es so aus, als wollte er tatsächlich einmal lächeln, aber dazu kam es nicht. Ich dachte an den Teenager mit Moebius-Syndrom, der einmal mein Patient und bei dem die ständig ernste Miene Teil des Krankheitsbilds gewesen war. Er hatte einen herrlich trockenen Humor gehabt, sich aber trotzdem isoliert gefühlt, weil seine ausdruckslose Miene in den Augen anderer Kids ein Zeichen von Kälte oder Ablehnung gewesen war. Ich fand einen Korkenzieher, öffnete die Flasche und schenkte uns beiden ein.
»Dein Haus ist einfach überwältigend.«
»Das Lob dafür gebührt nicht mir.« Alvarez kippte gerade die Nudeln in ein Sieb und hatte mir deshalb den Rücken zugewandt. »Alles, was du hier siehst, hat Louisa ausgesucht. Das war ihre Leidenschaft. Ich glaube, dass sie sämtliche Folgen von Große Träume, große Häuser aufgenommen hat.«
Ich blickte auf die Steingutschüsseln auf dem Sideboard und die lederbezogenen antiken Stühle am Tisch. Wie war es wohl, wenn man allmorgendlich allein aufwachte und von diesen prächtigen Reliquien umgeben war?
Zu dem Knoblauchhühnchen und den Nudeln hatte Alvarez noch einen knackigen grünen Salat gemacht und war deshalb beim Servieren zu beschäftigt, um auf irgendwelche Fragen einzugehen. Schließlich aber fing ich an zu essen, und als ich die ersten Nudeln vorsichtig auf meine Gabel rollte, blickte er mich fragend an.
»Also, wobei soll ich dir helfen?«
Ich erzählte ihm von Lola, und obwohl er erst so skeptisch wie sein Vorgesetzter wirkte, änderte sich seine Miene, als er die Details erfuhr. Ich erklärte, dass ich ihren Pass gefunden hätte und sie deshalb offenkundig nicht in Schweden wäre, aber weder irgendwer von ihrer Familie noch einer ihrer Freunde noch einmal etwas von ihr gehört hätten, nachdem sie von Craig in Soho in ein Taxi verfrachtet worden war. Bis ich mit meiner Erzählung fertig war, hatten wir die Weinflasche geleert, und zwischen Alvarez’ Brauen war wieder die bekannte Falte aufgetaucht.
»Und Burns hat nichts unternommen?«, fragte er verblüfft.
»Er hat einfach abgewinkt, als wäre ihm das alles vollkommen egal.«
Alvarez schob seinen Stuhl zurück und stand entschieden auf. »Hör zu, Alice, ich werde dieser Sache sofort nachgehen, aber dazu muss ich ein paar Telefongespräche führen.«
Aus irgendeinem Grund wäre ich um ein Haar in Tränen ausgebrochen. Vielleicht einfach aus Erleichterung, weil mir endlich jemand glaubte.
Er beugte sich zu mir herab und berührte meine Wange. »Keine Angst, wir werden deine Freundin finden. Aber diese Telefongespräche werden etwas dauern. Sieh dich währenddessen einfach etwas bei mir um. Ich weiß ja, dass du vor Neugier fast vergehst.«
Er schnappte sich sein Handy, und wie immer, wenn er bei der Arbeit war, nahm er nichts anderes mehr wahr.
Ich schlenderte gemächlich in den ersten Stock hinauf, sah mir die Zeichnungen und Aquarelle an den Wänden an und öffnete die Tür des Bads. Mit den gelaugten Weichholzbrettern an den Wänden, einer riesengroßen, freistehenden Wanne und der tadellosen Ordnung, die dort herrschte, war es ein durchaus beeindruckender Raum, und trotzdem drückte ich bereits nach einem kurzen Augenblick die Tür wieder ins Schloss. Weil ich, wenn ich ehrlich war, eher wegen der Schlafzimmer heraufgekommen war. Der erste Raum, in dem ein Bett stand, sah viel schlichter aus als der Rest des Hauses. Offenbar hatte Louisa diesem Raum nicht ihren Stempel aufgedrückt, denn die weißgestrichenen Wände waren kahl und wiesen weder irgendwelchen Schmuck noch auch nur einen Spiegel auf. Hier schien Alvarez zu schlafen, denn das Zimmer roch nach ihm und wirkte mit den Bücherstapeln und dem Radiowecker auf dem Nachttisch und dem Haufen Schuhe in der Ecke bewohnt.
Die Tür des nächsten Raumes schien abgesperrt zu sein, denn als ich versuchte, sie zu öffnen, bewegte sie sich keinen Millimeter. Trotzdem drehte ich den Knauf ein zweites Mal, und plötzlich ging sie knirschend auf.
Ich machte Licht und musste blinzeln, denn ich traute meinen Augen nicht. Dies musste das Zimmer sein, das Alvarez mit seiner Frau geteilt hatte, inzwischen aber sah es eher wie ein Museum aus. Die Bettdecken waren zurückgeschlagen, so, als wären die beiden erst vor wenigen Minuten aufgestanden, über
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