Im Tunnel: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
seines Dienstes in der russischen Armee in vielen postsowjetischen Krisenherden gekämpft hatte. Doch seit einer Woche war Ded spurlos verschwunden.
Der alte Draufgänger fürchtete weder Gott noch den Teufel und unternahm häufig Erkundungsmärsche in das Tunnelsystem im Umfeld der Station. Das mit der »Erkundung« war wohl eher ein Vorwand für ihn, in Wirklichkeit brauchte er einfach den Nervenkitzel.
Zu seinen Expeditionen brach er mit einem Dreitagesvorrat an Verpflegung, Wasser und Machorka auf. Wenn er zurückkam, berichtete er Nestor über nützliche Funde und bemerkenswerte Entdeckungen in den endlosen Labyrinthen, von denen niemand wusste, von wem und wozu sie errichtet worden waren.
Ded war nie länger als vier Tage ausgeblieben, deshalb hatte man am fünften Tag einen Suchtrupp losgeschickt. Nachdem dieser mit leeren Händen zurückgekommen war, hatte man Ded für tot erklärt. Tolik kam beiläufig in den Sinn, ob man ihn womöglich hatte rufen lassen, um ihm Deds frei gewordenen Posten anzutragen.
Im Stabszelt war es ausgesprochen hell. Während es in den meisten Unterkünften bestenfalls Petroleumlampen gab, war das Quartier des Kommandanten an die Stromversorgung der Station angeschlossen.
Eine schwarze Trennwand teilte das Zelt in zwei Hälften. Im hinteren Bereich befanden sich Nestors Privatgemächer. Er wohnte nicht ganz so bescheiden wie gewöhnliche Anarchisten, doch als komfortabel konnte man seine Hütte nicht bezeichnen.
Zur schlichten Einrichtung gehörten ein Klappbett, ein durchgesessener Lehnstuhl, ein Kästchen, ein Bücherregal, ein Schrank und ein abgewetzter Schreibtisch, auf dem sich Papiere stapelten. Das war natürlich mehr, als zum Beispiel Tolik besaß, doch irgendeinem Apparatschik von einer abgelegenen roten Station hätte dieser Hausrat nur ein mitleidiges Lächeln abgenötigt.
Den Großteil der vorderen Hälfte des Zelts nahm ein großer runder Esstisch ein . A uf diesem war eine riesige Metrokarte ausgebreitet, die aus einem Dutzend Tapetenbahnen zusammengeklebt war. Eine so große und detaillierte Karte hatte Tolik noch nie gesehen . A lle bekannten Metrostrecken waren als schwarze, punktierte Linien dargestellt. Das gehörte zum Standard. Nach einigen Jahren im Untergrund konnte jeder Metrobewohner sämtliche Stationen auswendig aufzählen und den entsprechenden Linien zuordnen.
Der Clou von Nestors Karte bestand darin, dass auch kaum bekannte Abzweigungen, Lüftungsschächte und Korridore, die in gewöhnlichen Karten fehlten, in verschiedenen Farben eingezeichnet waren . A uf dem ganzen Plan wimmelte es von Frage- und Ausrufezeichen. Mit den Fragezeichen hatte Nestor vermutlich Stellen markiert, die noch nicht ausreichend erkundet waren oder die Aufklärer vor Rätsel gestellt hatten. Die Ausrufezeichen bedeuteten Gefahr. Patronen verschiedenen Kalibers waren auf der Karte wie Spielfiguren verteilt. In mehreren Blechdosen qualmten Zigarettenkippen.
Nestor nickte den Ankömmlingen aufmunternd zu, und diese verteilten sich hüstelnd um den Tisch. Bei der Auswahl der Sitzgelegenheiten machte sich eine unsichtbare Rangordnung bemerkbar.
Der Kommandant nahm in einem bequemen Sessel mit lederbezogenen Armlehnen Platz. Der Chef der hiesigen Spionageabwehr – an der Woikowskaja als Genosse Karetnikow bekannt, an anderen Stationen vermutlich unter anderem Namen – begab sich auf einen Stuhl, dessen Lehne aus Rotholz gefertigt und mit einer schnörkeligen Schnitzerei verziert war . A rschinow versank in einem mit Segeltuch bespannten Liegestuhl. Die sieben Kämpfer verteilten sich auf einer langen Holzbank und grob zusammengezimmerten Hockern.
Erst jetzt bemerkte Tolik einen kleinen, dicken Mann, der argwöhnisch hinter Nestors Rücken hervorlugte. Der Unbekannte trug die Uniform eines NKWD -Offiziers, wie sie Tolik aus Filmen über den Zweiten Weltkrieg kannte, die er in seiner Kindheit gesehen hatte. Dunkelblaue Stiefelhose, khakifarbene, hochgeschlossene Jacke mit Rauten am Kragenspiegel, Schirmmütze mit krapprotem Saum und blauem Oberteil – die Montur verströmte Museumsflair. Der Blick unter dem tief ins Gesicht gezogenen Schild wirkte unheilvoll und maskenhaft. Hätte nur noch gefehlt, dass dieser operettenhafte NKWD ler »Für die Heimat! Für Stalin!« bellt, dann wäre das Bild komplett gewesen.
Tolik jedenfalls empfand von Anfang an eine abgrundtiefe Abneigung gegen den Mann.
Mit einer Handbewegung beendete Nestor das Gemurmel im Zelt.
»Was ich euch
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