Im Visier des Todes
zerrt die Kleine zu sich, legt seine Hand um den dünnen Kinderhals. Du wirst doch tun, was ich sage, Nathalie, du wirst ganz brav sein, nicht wahr?
Sie war brav.
Sogar, als sie an ihrem eigenen Blut schlucken musste, war sie brav, hat mich angefleht, ihrer Kleinen nicht wehzutun. Sabine. Was für ein bescheuerter Name! Es war ein Fehler, die Kleine mitzunehmen.
Wie tragisch, dass Nathalies Tod vergeblich war. Dass alle Zeichen missachtet wurden. Dabei habe ich alles versucht, so viel riskiert! Büßen solltest du für die Morde. Nie wieder solltet ihr euch sehen. Ja, ich habe alles versucht. Aber jetzt weiß ich einfach nicht weiter. › Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir – für immer ‹ , hat Konfuzius gesagt. › Für immer ‹ … ja, das will ich. › Für immer ‹ … diese Liebe. Diese reine, ursprüngliche Liebe.
Schlaf, schlaf ruhig ein. Kämpfe nicht dagegen an.
Du wirst schon sehen, es wird alles gut. Für immer.«
Alles ist ausgesprochen, all die Wörter, die in der Welt herumgeschwebt sind, sind weg. Leer fühlt man sich. Nicht befreit, sondern einfach nur leer.
Schlaf, schlaf ruhig ein, kämpfe nicht dagegen an.
Schlaf.
Es ist noch so viel zu tun … Hat Paris nicht gezeigt, dass einfach nicht immer reicht? Überzeugt werden die Verblendeten, zum rechten Weg bekehrt. Hart, unbarmherzig. Das Ende muss sein; so kehrt die reine Liebe zurück, zurück ins Leben.
Der Kopf sinkt schwer auf die Brust. Ist es vorbei? Man beugt sich vor, berührt die schlaffe Hand und lächelt in die eigene Leere.
In der breiten, glänzenden Klinge des Messers spiegelt sich die Welt. Die Schneide ist scharf. Es wird enden, wo alles angefangen hat.
»Zeig mir, dass du noch lebst, Kay.«
Ein bisschen musst du noch leben.
33
»Nein, hören Sie … Ja, das verstehe ich … Richtig, aber diese Formulierung können wir im Vertrag nicht akzeptieren.« Leah drückte den Hörer fester ans Ohr und gab sich alle Mühe, das auf dem Tisch vibrierende Handy zu ignorieren. Warum glaubte die Welt, ausgerechnet dann im Chaos versinken zu müssen, wenn Leah ohnehin schon kaum noch wusste, wo ihr der Kopf stand? Das Packen der Umzugskisten zu Hause; ihre Mutter, die stets hyperventilierte und nachfragte, ob sie tatsächlich an alles gedacht und unbedingt auch feuchtes Toilettenpapier eingepackt habe; vereinte Versuche mit Thessa, die Mutter zu beruhigen, dass es kein wirklicher Umzug sei, nur ein paar Sachen, die sie in Kays Wohnung bringen würde, um dort hin und wieder zu übernachten. Und dann kam zu allem Überfluss vor zwei Tagen eine SMS von Kay, er müsse kurz verreisen, sie würde aber bald von ihm hören. » Es wird enden, wo alles angefangen hat. « Was auch immer er damit meinte. Ihr persönliches Chaos schien nie zu enden. Obwohl heute auf der Arbeit ein Päckchen von Kay auf sie gewartet hatte – mit einer winzigen Schmuckschachtel darin. Im ersten Augenblick hatte ihr Herz tatsächlich einen Versuch gemacht, aus ihr herauszuhüpfen. Es ging alles so schnell. Viel zu schnell. Dass er ihr Leben verändern würde, war ihr klar, aber gleich von einem rasenden Zug mitgerissen zu werden? Fast erleichtert hatte sie festgestellt, dass es kein Ring war. Er hatte ihr bloß eine Haarsträhne geschickt. Süß. Ein wenig kitschig.
Aber hatte er sie nicht gewarnt, dass er in Sachen Romantik gern auf Klischees zurückgriff, weil er soooo unkreativ war? Sie schmunzelte, als sie sich dabei ertappte, wie sie die Haarsträhne zwischen den Fingern zwirbelte. Und den Hörer mit dem Dienstgespräch an ihr Ohr drückte. »Ähm, Entschuldigung, könnten Sie wiederholen, was Sie gerade gesagt haben?«
Aus dem Augenwinkel erspähte sie Adrianna, die direkt vor ihrem Schreibtisch eine beeindruckende Nachahmung des Washington Monuments von sich gab und mit beiden Zeigefingern rhythmisch auf die Tischkante klopfte.
»Nein, so lange kann ich leider nicht warten. Mein Abgabetermin ist diesen Freitag, damit ich die Unterlagen pünktlich zur Genehmigung einreichen und die Vereinbarung zum Ersten des kommenden Monats in Kraft treten kann. Ja. In Ordnung, ich warte auf Ihren Rückruf.«
Erst vier Tage zurück im Büro, und sie war schon wieder reif für Paris. Leah steckte den Hörer in die Basisstation und ließ sich gegen die Stuhllehne fallen: »Was ist?«
Adrianna roch nach der Kälte von draußen und Zigarettendunst. Seit im Gebäude Rauchverbot verhängt worden war, sammelten sich die Qualmer unten im Hof am
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