Im Visier des Todes
leuchtete schon lange nicht mehr, das blank gelegte Fruchtfleisch begann anzutrocknen. Sie saß am Küchentisch, bis sich die Dämmerung herabsenkte. Bald war das Stück Clementine nicht mehr zu sehen, doch Leah machte kein Licht an. In der Dunkelheit fühlte sie Kays Berührungen, seine Umarmung, in der sie aufgehört hatte zu fallen.
Endlich stand sie auf und bereitete ihrer Mutter einen Tee. Die Packung versprach eine süße Verführung mit Kirsche und Vanille. » Oh Happy Day « war alle.
Die Schlafzimmertür der Mutter blieb auch am nächsten Morgen verschlossen, doch länger mit Abwesenheit im Büro zu glänzen, konnte Leah sich nicht erlauben. Nicht in diesen Zeiten, da jeder um seinen Arbeitsplatz bangte. Ohne ihr Einkommen würde sie das Haus nicht mehr halten können und ihre Mutter letztendlich aus dem vertrauten Umfeld herausreißen müssen. Außerdem mochte sie ihren Job nach wie vor, auch wenn früher, bevor Adrianna aufgetaucht war, vieles unbeschwerter gelaufen war.
Also fuhr Leah ins Büro und schaffte es irgendwie, sich durch den Tag zu schmuggeln, obwohl ihre Gedanken stets um Kay und ihre Mutter kreisten.
Der Anruf war mit dem Feierabend gekommen.
Leah ließ sich von ihrem Bürostuhl wiegen und versuchte, eine Papierkugel in den Bleistifthalter zu schnippen. Als der nächste Wurf von der Ecke ihres Monitors abprallte, fing sie die Kugel auf und schloss sie in der Faust ein.
Wenn dir noch etwas einfällt oder … du jemanden brauchst … Das waren ihre eigenen Worte gewesen, die von Herzen kamen, die sie ernst gemeint hatte. Zumindest, bevor ihre Mutter überfallen wurde.
Und ausgerechnet jetzt dieser Anruf. Ich brauche dich, hatte Thessa gesagt, als Leah ans Handy gegangen war. Ich habe schreckliche Angst, dass Nathalie etwas Dummes anstellt. Du musst mir helfen, sie zur Vernunft zu bringen. Du … du wirst mir doch helfen, oder?
Ich kann nicht, war das Erste, was sie erwidert hatte. Sie legte den Kopf in den Nacken. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie Kay mit ebendiesen Worten ihr Zimmer verließ, wie sich die Tür hinter ihm fast schloss, um gleich wieder einen Spaltbreit aufzugehen und den leeren, dunklen Flur dahinter zu entblößen.
Erneut zerknüllte sie den Zettel, um ihn dem Bleistifthalter entgegenzuwerfen. Die Adresse darauf hatte sie bereits auswendig gelernt. Nick Millas Adresse.
Bitte, Leah, du hast doch gesagt … wenn ich jemanden brauche … sollte Nattie etwas zustoßen …
Ich weiß, Thessa. Ich weiß, was ich gesagt habe. Aber seitdem ist so viel passiert.
Hör zu, es ist wirklich wichtig. Nattie hat in Célis Sachen gestöbert, du weißt schon, in denen, die noch bei uns liegen. Dieser angebliche Freund, vor dem deine Schwester so viel Angst hatte, heißt Nick. Er war Assistent bei Dream Impressions. Nattie hat ein paar Fotos gefunden, die … na ja … und Notizen … Sie ist zu ihm gefahren, verstehst du?
Tut mir leid.
Leah packte ihre Sachen zusammen. Sie würde nach Hause gehen und an die verschlossene Schlafzimmertür klopfen, auf sie einreden – und spät in der Nacht aufgeben. Vielleicht würde sie auch ausgerechnet heute den Mut finden, ihr verwüstetes Zimmer zu betreten. Es endlich aufräumen, um nicht mehr auf dem Gästesofa zu schlafen.
Sie konnte ihre Mutter nicht noch einmal in Gefahr bringen. Sie musste den Drang, dem Mörder selbst auf die Spur zu kommen, verstummen lassen. Alles vergessen. Abends wie ihre Mutter am Fenster sitzen und einfach nur hoffen, dass die Polizei etwas herausfand. Das dürfte doch nicht so schwer sein.
Aber Nattie ist so ein Hitzkopf! Sie will doch tatsächlich …
Leah stand am Gleis und sah zu, wie die U-Bahn, die sie hätte nach Hause bringen sollen, wegfuhr. Die zweite inzwischen. In ihrem Verstand schwebten Kays » Ich kann nicht « , Thessas Verzweiflung und das damalige Versprechen: Wenn du etwas brauchst …
Nick Milla wohnte in einem Altbau, vor dessen Eingangstür der Wind die dort abgelegten Bündel von Wochenblättchen zerfledderte. Die Fassade erstrahlte in einem Kükengelb und verhöhnte die unsanierten Nachbarhäuser, denen die Abgase der Millionenstadt in jede Pore gekrochen waren.
Leah harrte unter dem Halteverbotsschild aus und versuchte, nicht daran zu denken, dass sie vielleicht beobachtet wurde – von dem Hund, der sich gerade an der Hausecke erleichterte; von den seltenen Passanten, die wie Ameisen ihren Fährten nachliefen; aus den unzähligen Fenstern, hinter einem von denen sich vielleicht
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