Im Visier des Todes
oder zur anderen Seite neigte. Sein Daumen streifte über ihre Lippen. Sie öffnete leicht den Mund und fühlte, wie ein Pinsel Farbe darauf hauchte. Noch ein paar Striche. Ein letztes Zuschnappen eines Döschens im Schminkkoffer. Dann fühlte sie Kay nicht mehr.
»Du kannst die Augen aufmachen.«
Er stand vor ihr und streckte ihr seine Hand entgegen. Sie ergriff sie und wurde auf die Beine gezogen.
»Und, wie findest du es?«
Sie lächelte. »Wunderschön.«
»Du hast gar nicht in den Spiegel gesehen.« Er runzelte die Stirn. »Weißt du was? Ich denke, wir lassen doch lieber einen Visagisten kommen. Ich kann Fotos machen, aber malen – das kann ich nicht.«
»Ich fand es wunderschön. Und glaub mir, ich werde niemanden mehr an mein Gesicht heranlassen.«
Zärtlich strich er ihr das lange Haar aus dem Nacken. »An diese Pracht musst du aber doch noch jemanden ranlassen. Meinst du, das geht in Ordnung?«
»Ich frage mich, was für ein Kino das ist, für das ich solch ein Kleid, einen Visagisten und einen Haarstylisten brauche. Halt! Läuft in Venedig üblicherweise nicht irgendein Filmfestival?«
Er grinste. »Nicht im Moment.«
»Dann bin ich ja beruhigt.«
Eine halbe Stunde später durfte sie ihre Suite verlassen – mit einer Hochsteckfrisur, die einer Sissi würdig gewesen wäre. Der hoteleigene Shuttle-Service brachte Kay und sie über das Wasser direkt ins Herz von Venedig. Sie achtete kaum auf den Weg, zu ergriffen war sie von den Bauten um sie herum, die in der Dämmerung und dem abendlichen Nebel versanken. Der Zauber, der sie gefangen hielt, verflog erst, als sie die Menschenmenge sah, die hinter einer Absperrung wartete. Die Blitzlichter. Ein Paar, das gerade über den roten Teppich stolzierte.
Blitzlichter.
Die ihr Inneres zerrissen.
Sie hielt an. Die angesetzte Korsage des Kleides ließ ihr plötzlich keinen Platz mehr zum Atmen. Der Neckholder schnürte sie ein. »Du hast gesagt, das Filmfestival läuft im Moment nicht.«
»Es ist nur die Premiere eines Films. Nichts wirklich Großes.« Er zeigte jemandem die Einladung, führte sie dem roten Teppich entgegen. Ihre Beine schlugen gegen den schweren Rock, das Selbstbewusste, Entschlossene in jedem Schritt.
Blitzlichter zuckten durch ihren Verstand.
Sie hielt an. Ihr Atem wurde immer flacher.
»Leah? Ist alles in Ordnung?«
Die Umgebung flackerte vor ihren Augen. In dem Stimmengewirr zerflossen ihre Gedanken. Ein bisschen Céline, irgendwo in ihr drin, sie hatte sie doch immer gefühlt. Sei bei mir. Kleine Schwester. Mein hässliches Entlein. Ich schaff das schon. Das, wovon du immer geträumt hast.
Kay blieb stehen. Wie an diesem Tag schon einmal drückte er sie sanft an sich und neigte sein Gesicht zu ihr. »Weißt du was? Vergessen wir das Kino. Lass uns einfach spazieren gehen.« Plötzlich zog er sie mit sich, fort von der Menge und dem Blitzlichtgewitter, zurück in den stillen Zauber des abendlichen Venedigs.
Sie folgte ihm, bis ihre Hand aus seinem Griff glitt, sie sich auf irgendeine Stufe sinken ließ und sich die Finger gegen die Schläfen drückte. »Es tut mir leid. Ich glaube, ich habe irgendwie die Nerven verloren. Wir … wir können gleich zurück, ich brauche nur etwas Luft.«
Er setzte sich neben sie. »Quatsch. Ich war es, der sich anders entschieden und dir einen Kinoabend vermasselt hat.«
»Kaum vorstellbar, wie viele Mädchen alles geben würden, um an deiner Seite da durchzustolzieren.«
Er legte einen Arm um ihre Schultern. »Und ich würde alles geben, um heute an deiner Seite durch Venedig zu stolzieren – egal, ob mit oder ohne roten Teppich. Komm, lass uns die Stadt ansehen. Aber ich warne dich: Ich bin ein miserabler Stadtführer.«
Das war er in der Tat, denn er hielt ihre Hand und schwieg, als wären all seine Worte von diesem Abend verschluckt worden. Zusammen schlenderten sie durch die Gassen, die ein verwinkeltes Labyrinth bildeten. Alles schien unter einem Bann zu liegen. Leah spürte die Melancholie, mit der die Stadt sie in ihre Seele einließ. Bei jedem Schritt rätselte sie, was sich ihr hinter der nächsten Biegung offenbaren würde. Ein Platz mit prachtvollen Palazzi und wehmütigem Geigenspiel, das aus einem der Restaurants erklang? Eine Brücke über einen der unzähligen Kanäle? Oder ein Gässchen mit billigen Restaurants und Geschäften, die venezianische Masken anboten? Oft endeten ihre Wege am schwarzen Wasser, das leere Gondeln wie Totenbahren schaukelte. Die Bauten ringsherum
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