Im Visier des Todes
der Gartenpforte bemerkt haben. Als sie über die Straße kam, hielt er ihr bereits die Beifahrertür auf. Mit einem letzten Blick aufs Haus registrierte sie die Silhouette ihrer Mutter am Fenster, die sich nicht mehr über die Sonderangebote beugte, sondern zwischen den Gardinen nach draußen spähte. Leah hatte es erfolgreich vermieden, in ihrer Gegenwart Kays Namen zu erwähnen, sie nicht einmal auf ihre panische Reaktion angesprochen. Das Leben im Hause Winter ging weiter und wollte nicht gestört werden.
»Hast du einen Ausweis bei dir?«, fragte Kay.
»Hm?« Sie beeilte sich, auf den Beifahrersitz zu schlüpfen, damit er die Tür hinter ihr schließen und ins Auto steigen konnte. Zeit genug, um ein entspanntes Grinsen zu üben. »Ist der Film FSK 18? Zugegeben, es schmeichelt mir, wenn du glaubst, jemand würde mein Alter anzweifeln, auch wenn … «
»Hast du ihn nun bei dir oder nicht?«
»Ja. Meine Handtasche ist mir zwar abhandengekommen, aber der Ausweis war nicht drin. Wenigstens den muss ich nicht neu beantragen. Erstaunlich, aus wie vielen Papieren und Plastikkarten ein Menschenleben besteht.«
»Gut.« Er drückte ihre Hände, die am Gürtel des Trenchcoats nestelten, und startete den Motor.
Sie beschloss, sich zu entspannen. Das erste Date? Wird schon . Wenigstens musste sie sich nicht die Frage nach Sex – ja oder nein? – stellen, denn den hatten sie schon gehabt. Aus der Musikanlage sang leise Adriano Celentano etwas über Amore – anscheinend eine sehr tragische Angelegenheit.
»Magst du italienische Musik?«, fragte Leah, um das Schweigen zu füllen.
»Magst du italienisches Essen?«
»Ähm. Ja. Durchaus.«
»Hast du schon einmal Fegato alla Veneziana con Polenta probiert?«
»Wenn du das sagst, klingt es so … unanständig.«
»Mh!«
Okay, keinen Small Talk also. Leah lehnte sich zurück und beschloss, sich lieber von Celentano unterhalten zu lassen. Der strengte sich wenigstens an. Dass die Fahrt zu Ende ging, bemerkte sie erst, als das Tageslicht verschwand und der Mustang durch eine Tiefgarage kurvte.
Sie folgte Kay aus dem Wagen. Der Aufzug brachte sie nach oben. Leah trat auf die Straße und blieb stehen, als wäre sie sonst in ein vorbeirasendes Auto hineingelaufen.
»Kay. Sag mir, dass du dich verfahren hast. Oder wo genau befindet sich › Kino ‹ ?«
Langsam dämmerte ihr die Bedeutung der Hinweisschilder auf Terminal 1 und Terminal 2 , die sie im Vorbeigehen wahrgenommen, aber nicht weiter beachtet hatte. Und die Flugzeuge, die sie bei der Fahrt hierher aus dem Autofenster registriert hatte.
»In Bella Italia.« Er reichte ihr sein Handy. »Ich glaube, es ist höchste Zeit, deine Mutter anzurufen und ihr zu sagen, dass du heute nicht zum Abendbrot nach Hause kommst.«
»Italien?« Vor Schreck hätte sie sich fast verschluckt.
Er lächelte. »Wenn du das sagst, klingt es so … nach Timbuktu.«
»Nein, ich kann nicht. Das ist doch verrückt.«
Er zog sie an sich heran. »Weißt du noch, wie du mir auf der Trauerfeier gesagt hast, du wolltest es oft so machen wie Céline: abhauen und nach Träumen greifen?« Seine Hände lagen auf ihrem Rücken. Sanft, und dennoch erlaubten sie ihr nicht, zurückzuweichen.
»Du … du erinnerst dich noch daran?«
»An jedes Wort.«
Sie sich an die seinen anscheinend weniger. Sonst hätte sie vielleicht schon bei Irgendwas alla Veneziana con Schieß-mich-tot den Braten gerochen. Oder was auch immer die Speise darstellte.
»Vertrau mir.« Er beugte sich über sie, drückte sie noch etwas fester an sich, sodass sie ihre Wange gegen seine Brust lehnen musste, ganz unbewusst die Augen schloss und seiner Stimme lauschte. »Sei wenigstens für diesen Tag frei. Morgen bist du wieder zurück und kannst dich um deine Mutter kümmern, zur Arbeit eilen, dich von deinem Chef wegen verpasster Termine anblaffen lassen … aber heute gehörst du ihnen nicht. Meinst du, du schaffst es, dieses eine Mal egoistisch zu sein?«
Und alle Fragen und Ängste zu vergessen?
»Ich kann es versuchen.«
»Schön. Dann versuchen wir es.« An der Hand führte er sie zum Gebäude des Flughafens, als befürchtete er, sie würde ihm doch noch entgleiten.
Alles war das erste Mal: Der Schluck italienischer Luft, erfüllt von der sprudelnden Vitalität der Landessprache; die Fahrt mit dem Wassertaxi durch das Grau des Herbstes, in dem alles unnahbar erschien, als wollte der Ort sich ihr nicht sofort offenbaren; der Anblick des Hotels, in dem sogar die
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