Im Visier des Todes
Bett und ging durch die Zimmer, ohne auch nur eine Spur von ihm zu finden. Im morgendlichen Schein wirkte alles seelenlos, steril. Als hätte hier nie jemand gelebt.
Sie beschloss, erst einmal das Bad zu benutzen. Wenn sie in der Duschkabine den Kopf in den Nacken legte, glaubte sie, in den Nachthimmel zu blicken. In die schwarzen Steinfliesen waren winzige Halogenlichter eingelassen. Sie drehte das Wasser auf, und ein warmer Regen ergoss sich über sie.
Erfrischt und belebt stieg sie aus der Dusche und stülpte ihre Klamotten über. Im Wohnzimmer lauschte sie in die Stille hinein und rief wieder nach ihm. Ein Teil von ihr hatte gehofft, er wäre inzwischen zurück, mit ofenfrischen Brötchen, die sie beide erst einmal liegen lassen würden, um einander zu genießen.
Ihr Blick fiel auf die Uhr. Halb elf.
»Verdammt!« Sie hastete zum Telefonhörer, der immer noch auf dem Boden lag, wohin sie ihn gestern geschleudert hatte, und setzte die Batterien wieder ein. Die Halterung des Deckels war abgebrochen, also ließ sie ihn weg und schaltete das Telefon an, das sich zu ihrer Erleichterung mit einem Freizeichen meldete. Sie wählte die Nummer ihrer Arbeit und sagte, sie sei krank. Dann kehrte sie ins Schlafzimmer zurück und ließ sich auf der Bettkante nieder.
Das Foto mit der Clementine fehlte. Dort, wo es gestanden hatte, lag ein Zettel. In ihren Gedanken türmten sich die Sprüche, die zu hören ihr schon immer Angst eingejagt hatte.
Es liegt nicht an dir, aber ich brauche meine Freiheit. – Was ungefähr hieß: Melde dich, wenn wir wieder einmal den Tisch an die Wand ficken wollen, aber den Geschirrspüler räum schön allein ein.
Ich möchte dir eine Chance geben, für eine neue Beziehung offen zu sein. – Am besten, du siehst dabei ein wenig von der Welt. Gibt es nicht auch in Neuseeland ganz passable Männer?
Und unschlagbar …
Tschüss!
Sie faltete den Zettel auseinander, der drei Zeilen für sie übrig hatte. So ist es besser für alle. Bitte verzeih mir! Kay.
Sie taumelte aus dem Schlafzimmer, hob im Vorbeigehen ihren Trenchcoat vom Boden auf und verließ die Wohnung. Aus dem Augenwinkel registrierte sie Elinor im Büro und beschleunigte den Schritt. Mit Sicherheit hatten Kay und sie gestern das ganze Studio mit ihrem kostenlosen Pornosoundtrack unterhalten.
»Leah?« Das Tackern der Absätze hinter ihr.
Sie lief nach draußen, um das Gebäude herum, immer tiefer in das Labyrinth der Bauten, blickte zurück. Natürlich folgte Elinor ihr nicht. Natürlich …
Sie prallte mit jemandem zusammen, spürte sogleich einen festen Griff an ihren Oberarmen. Der ranzige Geruch eines ungewaschenen Körpers umnebelte ihren Verstand. Sie keuchte. So nah und bei Tageslicht glaubte sie, in den von verfilztem Haar bedeckten Zügen unter der Kapuze etwas Bekanntes zu erkennen.
»Kannst nich die Finger von ihm lassen, was?« Der säuerliche Atem wehte ihr ins Gesicht. In den wässrigen Augen las sie Hass und Verachtung.
»Wer sind Sie?«
»Gerechtigkeit ist nur ein leeres Wort.« Er drückte sie fester an sich. Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, doch er verstärkte den Druck, presste sie gegen einen Maschendrahtzaun und raubte ihr jede Bewegungsfreiheit. »Aber ich werde schon für Gerechtigkeit sorgen.«
Sie stemmte sich gegen ihn – ohne Erfolg. »Was wollen Sie?«
»Ihn für alles büßen lassen. Dass er alles verliert, was er liebt. Ihn zerstören, wie er mich zerstört hat.«
»Meinen Sie Kay?« Bloß nicht die Nerven verlieren. Sie musste mit ihm reden, Zeit gewinnen, irgendetwas würde ihr schon einfallen. Rasch blickte sie sich um. Kein Mensch, niemand, der ihr helfen könnte.
Er bemerkte es, stieß ein krächzendes Lachen hervor und neigte sein rotes, verschwitztes Gesicht zu ihr, sodass seine Lippen fast ihre Wange berührten. »Hier sieht keiner etwas.«
Er zerrte sie weg vom Zaun, schleifte sie fort. Ihr Herz raste. War er der Entführer, der Mörder? Ein Auto hätte er kurzschließen und stehlen können, wenn er als Obdachloser keines besaß. Vielleicht war er auch gar nicht obdachlos …
Sie versuchte erneut, sich von ihm loszureißen. »Lassen Sie mich!«
Er packte sie kräftiger, schüttelte sie durch. »Warst du etwa nicht gewarnt? Du hättest dich von ihm fernhalten sollen, dann wäre dir nichts geschehen. Aber du bist gern seine kleine Nutte, stimmt’s?«
»Stimmt.« Sie rammte ihm ein Knie zwischen die Beine. Er keuchte und lockerte den Griff zumindest so weit, dass
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