Im Visier des Verlangens
ihren Gemütsaufruhr zu bezwingen, bis der Rauch verweht und sich wieder neu gebildet hatte, ehe sie fortfuhr. „Ich glaube, du unterschätzt deine Willenskraft.“
„Und du hast immer zu hohe Erwartungen in mich gesetzt“, entgegnete Louisa trocken. „Ich bin nicht stark, bei Weitem nicht so stark wie du.“
Versonnen beobachtete Kate die Grashalme, die sich im Wind bewegten und aussahen wie gelbgraue Wellen eines Sees. Könnte Louisa in ihre Seele blicken, würde sie Kate nicht als stark bezeichnen. Sie fürchtete Harcroft, ihre Angst vor Entdeckung grenzte beinahe an Panik. Ihr eigener Ehemann könnte Verrat an ihr üben, und dennoch wünschte sie, er hätte die letzte Nacht mit ihr verbracht.
Sie war nicht stark.
Nein. Kate hatte Angst. Aber sie hatte gelernt, ihre Gefühle hinter einer Fassade nüchterner Sachlichkeit zu verbergen, die nun von Ned bedroht wurde.
Sie wartete, bis ihr Verstand wieder die Oberhand gewonnen hatte, bevor sie sprach. „Du hast nichts zu befürchten.“ Sie hob das Kinn und nahm plötzlich eine Bewegung auf der Hügelkuppe wahr. Das Blut gefror ihr in den Adern. In denwenigen Sekunden, die verstrichen, bevor sie wieder atmen konnte, erkannte sie zwei Reiter.
Harcroft und ihr Ehemann. Beim Frühstück hatten die beiden davon gesprochen, ein paar Weiler in der Gegend aufzusuchen, um Erkundigungen einzuholen. Aber Kate hatte nicht damit gerechnet, dass sie den schmalen Pfad nach Westen nehmen würden.
„Geh in Deckung“, zischte sie.
Louisa ging so hastig in die Hocke, dass Jeremy aufwachte und erschrocken blinzelte. Die beiden Frauen kauerten nebeneinander auf dem Lehmboden.
Solange sie sich ruhig verhielten …
Jeremy begann zu weinen. Nicht leise wimmernd. Er verzog das kleine Gesicht und brüllte aus Leibeskräften. Kate hätte nie gedacht, dass dieses winzige Bündel, kaum größer als ein Kohlkopf, solch ohrenbetäubenden Lärm von sich geben könnte. Entsetzt starrte sie Louisa an, die den Kleinen tröstend wiegte und ihm vergeblich den Rücken tätschelte. Die Frauen tauschten angstvolle Blicke.
Es bestand allerdings keine Veranlassung, warum die Reiter sich der Hütte nähern sollten. Der Pfad verlief etwa eine Viertelmeile entfernt über die Hügelkuppe zu einem Weiler, acht Meilen von hier. Selbst wenn sie näher kämen, könnten sie nichts Verdächtiges wahrnehmen, nur eine verlassene Schäferhütte. Und so laut Jeremy auch schreien mochte, um sein Gebrüll zu hören, müssten sie dicht daran vorbeireiten.
Kates Hände waren eiskalt geworden. Sie wusste nicht, ob sie oder Louisa zitterte. Sie kauerten so eng beieinander, dass ihr Zittern sich übertrug. Kate musste einen klaren Kopf behalten. Falls die Reiter sich näherten, musste sie handeln, unausweichlichen Fragen zuvorkommen. Die Pistole wäre jedenfalls keine Lösung.
Jeremys Gebrüll versiegte einen Moment, als er nach Luft schnappte. In diesem kurzen Augenblick hörte sie den Wind in den Gräsern rascheln sowie das völlig unangebrachte muntereZwitschern einer Amsel. Und dann schrie er wieder; doch bald versiegte sein Weinen zu einem dünnen Krähen. Hufschläge dröhnten in ihren Ohren. Näher und näher. Sie wartete mit angehaltenem Atem und ineinander verkrampften Fingern.
Aber nein, das Dröhnen war nur das wilde Klopfen ihres eigenen Herzens. Sonst nichts.
Kein Laut, nur das letzte Gurgeln nach Jeremys Ausbruch. Die Gefahr war gebannt.
„Siehst du?“, hauchte sie mit einem bebenden Lächeln. „Wir haben nichts zu befürchten. Ich schau mal nach …“
Sie zog sich an dem schmalen Fenstersims hoch.
Keine zweihundert Schritte entfernt jagten Harcroft und Ned im gestreckten Galopp querfeldein parallel zur Hütte. Sie würden die Pferde jäh zügeln, wenn sie ihr Gesicht am Fenster entdeckten. Kate stand wie gelähmt da.
Eine plötzliche Bewegung würde sie verraten. Unendlich langsam wich sie in den Schatten zurück und beobachtete gespannt und mit rasendem Herzklopfen, wie die Reiter die Hütte passierten und den Hügel im Trab nahmen.
Auf halber Höhe drehte Ned sich im Sattel um. Sein Gesicht war nur verschwommen zu erkennen, aber seiner Haltung nach könnte er den Blick direkt auf sie gerichtet haben. Es war unwahrscheinlich, dass er in der dunklen Stube etwas sah, unmöglich, ihre Gestalt durch das blinde Fenster zu erkennen. Undenkbar, dass er überhaupt Verdacht schöpfte. Diese Gedanken betete Kate im Stillen wie eine flehentliche Litanei zum Himmel.
Ihr verzweifeltes Stoßgebet
Weitere Kostenlose Bücher