Im Visier des Verlangens
andere Anwesende. Auf einer Bank lag schnarchend ein verwahrloster Trunkenbold. In sicherem Abstand kauerte eine blasse Frau in einem zerschlissenen braunen Wollkleid und drückte zwei abgemagerte Kinder an sich. Eine Handvoll Konstabler in blauen Uniformen wartete gelangweilt. Es stank nach Schweiß, schalem Bier und allerlei sonstigen menschlichen Ausdünstungen. Ned hielt den Atem an und schaute sich um.
Am anderen Ende der Raumes stand Kate hoch erhobenen Hauptes mit leicht zerzaustem Haar, hielt Ned den Rücken zugewandt und blickte zum Richter. Der Mann saß – wenn man sein respektloses Lümmeln denn so nennen wollte – in einem zerknitterten Gehrock auf einem hohen Lehnstuhl. Der einzige Hinweis auf seinen ehrenwerten Stand war eine schmutzig weiß gepuderte Perücke, die er schief auf seinem Kopf trug.
Ihm gegenüber vor dem Richtertisch stand der Earl of Harcroft.
Er hatte diese Farce also inszeniert. Ned hatte geahnt, dasser einen Plan ausheckte. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, seine Frau unter Anklage irgendeiner Straftat vor dem Richter vorzufinden.
Kate machte eine ruckartige Bewegung, die Neds Blick auf ihre Hände lenkte. Sie trug Handschellen.
„Was haben Sie zu den Anklagen gegen Sie vorzubringen?“, fragte der Richter in gelangweiltem Tonfall.
„Ich kann wenig dazu sagen, Euer Ehren, da ich sie nicht zu hören bekam.“ Kates Stimme klang fest – wie immer, sie ließ sich keine Schwäche anmerken.
„Sie haben sie nicht gehört?“ Der Richter machte ein verdutztes Gesicht. „Aber wie kann das sein?“
„Sie haben mir die Klage nicht vorgelesen, Euer Ehren.“
Der Richter bedachte Kate mit einem strafenden Blick, als sei es ihre Schuld, dass er sich mit so belanglosen Dingen befassen musste, wie eine Klageschrift zu verlesen. Mit ausladender Geste griff er nach einer Brille auf dem Tisch, setzte sie auf die Nase und hielt sich ein Blatt Papier in Armlänge vor. „Hier“, erklärte er. „Entführung.“
Er nahm die Brille ab und beäugte Kate wieder. „Nun, was haben Sie zu dieser Anklage zu sagen?“
„Entführung von wem, Euer Ehren?“
Es entstand eine Pause, die Lippen des Richters wurden schmal. „Normalerweise“, erklärte er herrisch, „habe ich es mit Angeklagten zu tun, die wissen, wen sie entführt haben.“ Finster starrte er Kate an.
Sie hob hilflos die Schultern.
Bedächtig griff er erneut nach der Brille und setzte sie auf die Nase. Diesmal las er das Schriftstück etwas genauer. „Ach ja. Ich entsinne mich. Entführung der Gemahlin dieses Herrn.“ Wieder riss er sich die Brille von der Nase, wandte sich jedoch nicht an Kate, sondern an Harcroft.
„Sehr merkwürdig“, sagte er gedehnt. „Entführung einer Ehefrau? Durch eine andere Frau? Ich kenne nur Fälle, in denen eine derartige Klage gegen Männer erhoben wird.“ Erwandte sich wieder an Kate.
„Aber es gibt keinen Gesetzesparagrafen, der nicht auch auf eine Frau anzuwenden wäre, nicht wahr?“, meldete Harcroft sich nun mit sanfter Stimme zu Wort. „Sie kennen den Inhalt des Haftbefehls, Euer Ehren. Muss ich das alles wiederholen, oder können wir endlich auf die Formalitäten verzichten?“
„Behauptet dieser Herr, Beweise in der Hand zu haben, ich hätte seine Frau unter Zwang entführt?“, erklärte Kate. „Er lügt.“
„Entführung durch Beeinflussung.“ Harcroft würdigte Kate keines Blickes. „Eine Ehefrau hat kein Recht, ihren Mann ohne seine Einwilligung zu verlassen.“
Ned senkte den Blick auf die Hand des Uniformierten, der ihn immer noch festhielt, und dann befreite er sich langsam aus seinem Griff. Er hatte nie wirklich darüber nachgedacht, aber Harcroft hatte vermutlich recht. Wenn dies der Fall war, könnte Kate tatsächlich eine Straftat begangen haben.
„Moment!“, rief Ned aus dem Hintergrund. „Ich bin der Ehemann dieser Dame.“
Der Richter nahm endlich Notiz von Ned, bedachte ihn mit einem langen mitleidigen Blick und schüttelte den Kopf. „Nun? Hat sie die Straftat begangen?“
„Wie können Sie Mrs Carhart überhaupt anklagen?“, fragte Ned. „Sie ist meine Ehefrau. Was immer sie getan haben mag – oder was immer ihr vorgeworfen wird –, sollte nicht ich die Verantwortung dafür tragen, ich als ihr Ehemann?“
Der Richter fixierte Ned schweigend.
„Das heißt, mich trifft die Verantwortung, Euer Ehren“, fügte Ned etwas verspätet hinzu.
„Mr Carhart, nehme ich an“, erklärte der Richter. „Sie sind nicht als Zeuge
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