Im Wahn - Moody, D: Im Wahn - Hater
Plane über unseren Köpfen ist ohrenbetäubend.
»Wo sind wir jetzt?«, fragt jemand nervös. Pflichtschuldig stecke ich erneut den Kopf durch den Riss in der Plane, ziehe ihn aber hastig wieder ein, als ich Soldaten zu Fuß näher kommen sehe. Ich warte, bis sie vorbeimarschiert sind, ehe ich vorsichtig wieder nach draußen spähe. Die Lastwagen (auch die anderen zehn oder so, die mit uns in dem Konvoi gefahren sind) halten in einer Reihe an einer schmalen Straße, die an einem offenbar recht dichten Wald verläuft. Wohin der Weg von da aus führt, kann ich nicht erkennen. Ich möchte mich nicht länger als nötig so präsentieren und schließe den Riss in der schweren Segeltuchplane wieder.
»Es gibt nicht viel zu sehen«, erzähle ich ihnen nutzloserweise, drehe mich um und gehe wieder in die Hocke. »Auf dieser Seite sind nur Bäume.« Im prasselnden Regen
muss ich brüllen, damit sie mich hören können. Der Lärm der Tropfen, die auf die straff gespannte Plane über uns prasseln, ist gnadenlos. In verbindung mit dem Halbdunkel verstärkt es meine Desorientierung noch. Ich ertrage das nicht mehr. Abermals frage ich mich, ob ich das Risiko eingehen und einen Fluchtversuch unternehmen sollte. Was hätte ich zu verlieren, wo ich doch schon so gut wie alles verloren habe? Ich weiß nicht, welche anderen Möglichkeiten mir bleiben. Es sieht immer trostloser aus. Soll ich einfach hier sitzen und auf das warten, was sie für uns geplant haben, oder nehme ich mein Schicksal selbst in die Hand und versuche zu fliehen? Was ich bis jetzt von dem Wald gesehen habe, sieht reichlich dicht und unwirtlich aus. Wir sind mitten in der Pampa, und mit den Lastwagen können die mir unmöglich in den Wald hinein folgen. Entweder schießen sie mir auf der Flucht in den Rücken, oder ich kann entkommen. Das Risiko lohnt sich bestimmt. Im Geiste sehe ich schon vor mir, wie ich wieder nach Hause gehe und Ellis finde, und das gibt den Ausschlag. Bei erster sich bietender Gelegenheit werde ich fliehen. Weiß Gott, wohin ich laufen werde, aber besser als hier dürfte es überall sein. ob ich den anderen erzählen soll, was ich vorhabe? Habe ich eine bessere Chance, wenn ich mit ihnen fliehe? Meine Instinkte sagen mir, dass ich sie sich selbst überlassen und mich um meine Angelegenheiten kümmern sollte, aber was wird dann aus Karin, Nancy und Patrick? Es ist doch sicher so, je mehr Leute fliehen, desto größer sind unsere Chancen, tatsächlich zu entkommen, oder nicht …?
Meine albernen Pläne sind in dem Moment zunichte, als zwei tropfnasse Soldaten die Plane an der Rückseite des Fahrzeugs zurückschlagen. Einer bindet das Segeltuch
hoch, der andere zeigt mit dem Gewehr in den Lastwagen. Jetzt, da ich wieder in den Lauf einer Waffe blicke, wird mir die Aussichtslosigkeit meiner Lage erneut bewusst. Die Pläne, die ich vor wenigen Sekunden noch ernsthaft erwogen habe, kommen mir jetzt ausgesprochen dämlich vor. Ich will mehr denn je kämpfen, aber ein Fluchtversuch unter diesen Umständen käme einem Selbstmord gleich.
»Aussteigen!«, blafft der Soldat mit dem Gewehr uns an. »Sofort aussteigen!«
Die ganz vorne im Laster klettern augenblicklich nach draußen. Es geht ein gutes Stück hinab zu dem schlammigen Weg, mehr als einer fällt. Arme Teufel, sind erst seit wenigen Sekunden draußen und schon nass bis auf die Haut. Einer der Männer bei mir – ein junger, schlanker Bursche mit langem, dunklem Haar – stürzt sich auf einen der Soldaten, kaum dass seine Füße den Boden berühren. Drei weitere Militärs erscheinen wie aus dem Nichts und zerren ihn von ihrem Kameraden weg. Zwei werfen ihn zu Boden und drücken ihm am Straßenrand das Gesicht ins Gras. Der dritte Soldat hebt eine Pistole und schießt ihm eine Kugel in den Kopf. Der panische Angriff und die eiskalte vergeltung sind binnen weniger Sekunden vorbei, der Leichnam wird weggeschleift. Die Leute, die schon ausgestiegen sind, schluchzen und wimmern vor Angst und Fassungslosigkeit.
Ich bin einer der Letzten, die aus dem Lastwagen steigen. Ich klettere rückwärts raus und rutsche ab, schaffe es aber irgendwie, dass ich aufrecht lande, als ich springe. Die anderen stehen in einer Reihe zwischen den Bäumen und den Lastwagen. Einer der Soldaten stößt mich zu dieser Reihe. Ich starre den Soldaten an. Seine Augen sind
verborgen; ich sehe mein geschwollenes Gesicht als Spiegelung in seinem visier. Ich sollte ihn sofort töten, denke ich. Und ich weiß, ich könnte es.
Weitere Kostenlose Bücher