Im Wald der stummen Schreie
schon mal einen auf Luxus machte, dann gründlich. Der Mann erging sich in langwierigen Erläuterungen. Das alte Intercontinental, das Metrocento, befinde sich am Ufer des Sees. Zu Zeiten der »revolución« sei es die Hochburg der Journalisten gewesen. El nuevo befinde sich im Stadtzentrum, in der Nähe des Tiscapa-Parks. Dort stiegen vor allem Geschäftsleute ab. Die beiden Hotels würden ein Schlaglicht auf die Entwicklung der Stadt werfen.
»Managua erlebt einen Boom!«
Jeanne hörte nicht zu. Sich hinter ihrer Sonnenbrille versteckend, betrachtete sie die Stadt, ihre Avenidas, ihre Palmen, ihre rosa verputzten Gebäude, ihre Schülerinnen in weiß-grauen Uniformen. Ihre bemalten Mauern, die etwas Inspirierendes hatten. Die wie ein Bunker auf erobertem Gebiet erbaute amerikanische Botschaft, die kein besonders starkes Selbstbewusstsein auszustrahlen schien ...
Erinnerungen überwältigten sie. Ihre große Reise durch Lateinamerika hatte in diesem Land begonnen. Damals hörte sie ununterbrochen das legendäre Album von The Clash, Sandinista! – eine Platte, die sie ihrer Mutter stibitzt hatte. Die britischen rude boys hatten diesen Titel als Hommage an Nicaragua und die sandinistische Revolution gewählt. Als sie, mit Walkman-Knopflautsprechern im Ohr, eingetroffen war, erwartete sie, das Paradies des Sozialismus zu entdecken, obwohl die Sandinisten 1990 abgewählt worden waren. Seit dem Sturz der Diktatur hatte sich offenbar manches verbessert. Doch dem scheidenden Präsidenten Arnoldo Alemán warf man vor, Gelder in Höhe von fast sechzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts veruntreut zu haben. Und was den legendären Anführer der Sandinisten, Daniel Ortega, betraf, so wurde er der Vergewaltigung seiner Stieftochter bezichtigt ... Jeanne hatte sich durch den bitteren Geschmack der Wirklichkeit nicht aus der Fassung bringen lassen. Sie hatte einfach die Musik der Magnificent Seven lauter gestellt und das Land bereist, den Kopf voller Utopien.
Das Taxi hielt. Das Intercontinental war Luxus und Unpersönlichkeit in höchster Vollendung. Sie fand hier den gesichtslosen, gleichförmigen Charakter großer Hotelketten wieder, der einerseits etwas Beruhigendes und Vertrautes hatte, aber andererseits jedes Gefühl von Exotik und Abwechslung erstickte. Wohin man auch kommt, man besucht überall das gleiche Land ... Wenigstens hatten die Architekten hier einige hispanische Akzente gesetzt. Kastilische Verzierungen. Maurische Fliesen. Stuckierte Brunnen. Aber all dies änderte nichts daran, dass sie sich in einer Bastion des Standard-Tourismus befand. Ein untrügliches Anzeichen: Jeanne schlotterte in der eisigen Luft, die aus der hochgeregelten Klimaanlage blies.
Ihr Zimmer hatte die gleiche Atmosphäre: weiß, steril, komfortabel. Nicht die geringste individuelle Note. Jeanne ging unter die Dusche. Schaltete ihr Handy ein. Eine Stimme teilte ihr auf Spanisch mit, dass sie jetzt bei einem anderen Anbieter war. Sie lächelte. Dieses kleine Detail verdeutlichte die Lage, in der sie sich befand: Sie hatte wirklich die Grenze überschritten. Keine neue Nachricht.
Der Telefonist des Hotels verband sie mit der Blutbank Plasma Inc. Es hieß, Eduardo Manzarena sei nicht da, man erwarte ihn am späten Nachmittag. Jeanne legte auf, um gleich bei der Rezeption anzurufen und nach einer Liste mit den zwanzig besten Hotels der Stadt zu fragen. Antoine Féraud war mit Sicherheit in einem davon abgestiegen.
Sie fühlte sich besser. Die Dusche, die aufbereitete Luft, das Spanischsprechen – die Wörter und der Akzent waren ihr mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit über die Lippen gekommen. Als man ihr die Liste gebracht hatte, begann sie, ein Hotel nach dem anderen anzurufen. Die Recherchen dauerten über eine halbe Stunde. Nada. Féraud wohnte irgendwo anders. Bei Freunden? Oder er hatte einen falschen Namen angegeben – aber warum sollte er das tun? Fürchtete er Joachim? Fühlte er sich verfolgt?
15.00 Uhr. Sie hielt auf ihrem Mac einige Gedanken fest, die ihr während des Fluges gekommen waren – obwohl sie die sieben Stunden zum größten Teil verschlafen hatte, waren ihr doch noch ein paar Details eingefallen, die sie abklären wollte ... Dann griff sie nach ihrer Jacke und ihrer Tasche und beschloss, einige Dinge zu erledigen, bevor sie an die Tür des Büros von Manzarena klopfen würde.
Sie hatte zwei Pläne im Kopf.
Zuerst wollte sie die grenzüberschreitende Solidarität zwischen Richtern testen.
Dann
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