Im Wald der stummen Schreie
wollte sie einen Abstecher in das Archiv von La Prensa machen, der größten Tageszeitung Nicaraguas, um Hintergrundinformationen über die Geschichte und das Profil des »Vampirs von Managua« zu sammeln.
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Das Gericht – Los Juzgados – lag im Südwesten der Stadt, unweit des Viertels La Esperanza. Das Gebäude stand eingeklemmt zwischen einem Gemüsemarkt und einem Busparkplatz. Gerüche von verfaultem Obst, gebratenem Fleisch und Benzin hingen in der Luft. Jeanne bezahlte den Taxifahrer und ging in die überdachten Gässchen hinein, ein schattiges Labyrinth mit Wassermelonen, Bananen, fliegenden Händlern, Schuhputzern, Streichholzverkäufern ...
Das Gerichtsgebäude sah nicht sehr einladend aus. Ein Klotz aus Betonfertigteilen, gesichert von baufälligen Gittern und verschlafenen Wachposten. Hängematten waren zwischen Bäumen aufgespannt. Polizeifahrzeuge schmorten in der Sonne. Hier herrschte eine seltsame Atmosphäre, die typisch für Mittelamerika war, halb nachsichtig und locker, halb militärischbedrohlich ... Entlang des Eisengitters zog sich eine endlose Schlange wartender Menschen hin – nicaraguanische Bauern, die mit ihren Unterlagen, ihren Sandwiches und ihren Kindern scheinbar gleichmütig in der Glut ausharrten.
Jeanne drängte sich auf gut Glück vor und schwenkte ihren Amtsausweis vor den Wachposten. Der Bluff gelang. Zumindest am ersten Portal. Ihre Stärke waren ihre guten Spanischkenntnisse. Sie sprach es nicht nur flüssig, sondern auch mit dem lokalen Akzent. Die Soldaten waren beeindruckt von dieser großen rothaarigen Französin, die ihren Jargon beherrschte, als würde sie in einem benachbarten barrio wohnen. Ein blauer Stempel auf der Hand sollte ihre alle Türen öffnen.
Im Innern setzte sich das Gedränge mit verminderter Kraft fort. Die funcionarios schlenderten umher, Formulare in den Händen. Die Besucher suchten nach der richtigen Tür. Die Soldaten schienen mit ihrem eigenen Schweiß an die Wand geklebt zu sein. Das Gebäude selbst schwankte in seinen Fundamenten. Zur Gänze aus brüchigem Material erbaut, schien es auf das nächste Erdbeben zu warten, um dann wiederaufgebaut zu werden.
Endlich fand Jeanne das Büro des Richters. Sie war schweißgebadet. Einige wenige Ventilatoren konnten nichts gegen die übermächtige Hitze ausrichten. Ein Soldat stand Wache. Jeanne überreichte der Gerichtsschreiberin ihren Pass und ihren französischen Richterausweis und ersuchte darum, von Eva Arias, die den Bereitschaftsdienst versah, in einer dringenden Sache empfangen zu werden.
Man ließ sie warten. Lange. Durch die einen Spalt breit offene Tür sah sie die Menschenmenge, die sich in den Räumen drängte. Vor dem Hintergrund des Stimmengewirrs klackerten angeschlagene Computertasten wie Holzschuhe. Soldaten versuchten, die Massen zu bändigen. All dies glich der tropischen Version eines Schlussverkaufs bei den Galeries Lafayette.
»Señora Korowa?«
Jeanne, die auf einer Bank saß, hob den Blick. Hob ihn noch ein Stück weiter. Die vor ihr stehende Frau durfte gut und gern eins achtzig groß sein.
» Soy Eva Arias «, fuhr die Frau fort und begrüßte sie mit einem kräftigen Händedruck.
Sie folgte der Hünin in ihr Büro. Während sich die Richterin hinsetzte, musterte Jeanne sie eingehend. Möbelpackerschultern. Athletenarme. Ein Gesicht, das die indianische Abstammung verriet. Hohe Backenknochen. Adlernase. Mandelaugen. In der Mitte gescheiteltes, glänzendes, schwarzes Haar, das zu Zöpfen geflochten war. Und ein völlig undurchdringliches Gesicht.
Jeanne stellte sich vor. Erklärte den Grund ihres Besuchs in Managua. Im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen, die in Frankreich geführt würden – einer Mordserie –, suche sie einen alten Mann und dessen Sohn, die zweifellos nicaraguanischer Abstammung und in diese Verbrechen verwickelt seien. Sie kenne lediglich den Vornamen des Sohnes und vermute, dass sie in den letzten Tagen in Managua eingetroffen seien.
Mit Rücksicht auf Jeannes ausländischen Pass und die weite Reise, die sie hinter sich hatte, hörte ihr Eva Arias geduldig zu, ohne die leiseste Regung zu zeigen. Während Jeanne sprach, versuchte sie die Frau einzuschätzen. Eine Richterin, die nicht mit sich spaßen ließ. Eine Indiofrau, die ihre Karriere der Alphabetisierungskampagne der Sandinisten in den achtziger Jahren verdankte. Eva Arias war eine derjenigen, die wegen ihrer Herkunft aus einfachen Verhältnissen auch »Barfüßer-Richter« genannt
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