Im Wald der stummen Schreie
wurden. Eine der Richterinnen, die nicht davor zurückgeschreckt waren, gegen den Staatspräsidenten Arnoldo Alemán und seine ganze Familie vorzugehen, als sich das ganze Ausmaß ihrer Korruption zeigte ...
Jeanne verstummte. Die Stille in dem Büro wurde schwerer, lastender. Sie spürte die pulsierende Kraft der Richterin.
Schließlich fragte diese mit ernster, bedächtiger Stimme:
»Was wollen Sie von mir?«
»Ich dachte ... Nun, ich denke, dass Sie mir helfen können, sie aufzuspüren.«
»Sie haben keine Namen, nicht einmal ein anderes Indiz, um sie zu identifizieren.«
Jeanne dachte an Antoine Féraud – er kannte den Familiennamen des Vaters. Sollte sie ihn erwähnen? Die Vorstellung, dass Féraud zur Fahndung ausgeschrieben würde, als ob er der Täter wäre, missfiel ihr.
»Verschiedene Indizien deuten darauf hin, dass besagter Joachim der Mann ist, der die Morde, von denen ich Ihnen erzählt habe, begangen hat.«
»Und?«
»Wenn dieser Mann tatsächlich nicaraguanischer Abstammung ist, hat er vielleicht vor Jahren auch schon hier in Managua zugeschlagen.«
»Wann?«
»Joachim ist fünfunddreißig. Meines Erachtens hat er als Heranwachsender mit dem Morden begonnen. Er hat eine ganz besondere Vorgehensweise. Man müsste im Archiv die Akten der ungelösten Mordfälle der letzten zwanzig Jahre aufstöbern und ...«
»Ich habe den Eindruck, dass Sie die Geschichte unseres Landes nicht besonders gut kennen.«
»Ich kenne sie. Ich kann mir durchaus denken, dass die Umstände in den achtziger Jahren der sorgfältigen Aufklärung von Verbrechen nicht gerade förderlich waren.«
»Die Massenmörder waren gerade aus den Regierungsämtern vertrieben worden. Wir sind eine junge Demokratie, Madame. Ein Land, das sich im Aufbau befindet.«
»Ich weiß das alles. Aber wir haben es hier nicht mit einem gewöhnlichen Mörder zu tun, sondern mit einem kannibalistischen Mörder. Es müssen sich noch Spuren von ihm finden. Auf Polizeiwachen, in Gerichtsarchiven oder auch in der Erinnerung von Menschen.«
Eva Arias legte die Hände flach auf ihren Schreibtisch.
»Sie scheinen zu glauben, dass die Mörder bei uns grausamer sind als in Ihren zivilisierten Ländern.«
Jeanne fand sich plötzlich auf dem heiklen Terrain nationaler Empfindlichkeiten wieder.
»Ich denke das Gegenteil, señora jueza. Der Mörder, den ich suche, ist so barbarisch, dass sich seine Taten ins Gedächtnis der Menschen eingegraben haben müssen, selbst mitten in der Revolution. Ich werde Ihnen die Fotos von den Tatorten zeigen. Die Morde in Paris sind unbegreiflich und von einer bestialischen Grausamkeit.«
»Glauben Sie, dass der von Ihnen gesuchte Mörder ein Indio ist?«
»Keineswegs, señora. «
»Nennen Sie mich Eva, schließlich sind wir Kolleginnen.«
»Eva, sehr gut. Ich möchte Ihnen etwas Persönliches anvertrauen. Nachdem ich die Nationale Richterakademie in Frankreich absolviert hatte, beschloss ich, aus Liebe zur hispanischen Kultur Mittel- und Südamerika zu bereisen. Sie hören mein Spanisch. Ich habe über ein Jahr in Lateinamerika verbracht. Ich habe die meisten der bedeutenden Schriftsteller Ihrer Kultur gelesen. Ich versichere Ihnen, dass ich keinerlei Vorurteile gegen die Völker Lateinamerikas hege.«
Eva Arias schwieg. Das Schweigen und die Hitze vereinigten sich zu einer drückenden Last, die immer schwerer wurde und das Atmen mühsam machte. Jeanne fragte sich, ob sie nicht in ein weiteres Fettnäpfchen getreten war. Ein Loblied auf die hispanische Kultur war gegenüber einer Ureinwohnerin Nicaraguas vielleicht fehl am Platz. Das war ungefähr so, als hätte man in einem Indianerreservat in Dakota ein Loblied auf Mark Twain angestimmt.
»In welchem Hotel sind Sie abgestiegen?«, fragte die Indianerin in liebenswürdigerem Ton.
»Im Intercontinental.«
»Welchem?«
»Dem neuen. Das wird mich ein Monatsgehalt kosten.«
Unvermittelt wich der undurchdringliche Gesichtsausdruck der Indiofrau einem Lächeln. Das Mienenspiel von Eva Arias hatte etwas Unberechenbares. Man wusste nie, was einen erwartete.
»Ich werde einige Telefonate führen. Das wird nicht leicht sein. Nach der sandinistischen Revolution wurden alle Richter ausgewechselt. Im Übrigen werden die Archive nichts hergeben. Sämtliche Akten aus der Zeit vor der Revolution sind verloren gegangen oder wurden vernichtet – oftmals von den Richtern selbst. Und was die Jahre der Revolution betrifft, ist es sogar noch einfacher: Da existieren überhaupt
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