Im Wald der stummen Schreie
diesem Fall aufweisen. Aber ich glaube nicht, dass wir fündig werden. So etwas hat es noch nicht gegeben.«
Jeanne überlegte, wie sie in einem solchen Fall vorgehen würde. Sie hätte das Archiv auf den Kopf gestellt, sich in die Zeitungsausschnitte vertieft, die Aufnahmen vom Tatort mit Reißzwecken in ihrem Büro befestigt. Sie senkte den Blick. Unwillkürlich zupfte sie kleine Stückchen von dem Brot ab, das sie in der Hand hielt. Trotz der Klimaanlage war sie klatschnass.
Taine lachte auf. Jeanne zuckte zusammen.
»Was ist?«
»Kennst du Langleber, den Rechtsmediziner?«
»Nein.«
»Ein Super-Intellektueller. Jedes Mal kommt er dir mit einem unglaublichen Spruch.«
Jeanne ließ die Krümel fallen und konzentrierte sich auf die Worte Taines. Sie fürchtete, von einer Panikattacke überwältigt zu werden. Wie damals, als sie an Depressionen litt. Als sie ihr Auto einfach in Tunnels stehen ließ und zu Fuß weiterging. Als sie ihre Mittagspausen heulend auf den Toiletten von Restaurants verbrachte.
»Am Tatort winkt mich Langleber zu sich. Ich erwarte einen Knüller von ihm. So ein Detail, das dich umhaut, wie in einem Fernsehkrimi. Da sagt er mir mit leiser Stimme: ›Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch.‹ Ich sage: ›Wie bitte?‹ Er fährt fort: ›Ein Seil über einem Abgrunde.‹«
»Das stammt von Nietzsche. Also sprach Zarathustra .«
»Das hat er mir auch gesagt. Aber wer außer diesem Blödmann hat schon Nietzsche gelesen?« Lächelnd fuhr er fort: »Und außer dir natürlich!«
Jeanne lächelte ebenfalls. Die Krise war vorüber.
»Du hättest ihm antworten sollen: ›Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist.‹ So geht der Absatz weiter. Aber ich gebe zu, dass Nietzsche für die Ermittlungen nicht viel bringt.«
»Mir gefällt die Geste, die du gerade gemacht hast.«
»Welche Geste?«
»Wenn du dir den Nacken massierst.«
Jeanne errötete. Taine sah sich um, wie um sicherzugehen, dass ihn niemand hören könne. Dann beugte er sich zu ihr vor:
»Wie wär's, wenn wir zusammen zu Abend essen würden?«
»Bei Kerzenschein und Champagner?«
»Warum nicht?«
Die Speisen wurden aufgetragen. Tournedos Rossini für Taine, Thunfisch-Carpaccio für Jeanne. Sie schob ihren Teller zurück.
»Ich glaube, ich werde gleich mit einem Tee weitermachen.«
»Und das Abendessen?«
»Hast du dein Glück nicht schon mal versucht? Mehrmals sogar?«
»Audrey sagt immer: ›Lassen wir die Vergangenheit auf sich beruhen.‹«
Jeanne lachte laut auf. Sie mochte diesen Typen. Er war keiner dieser abgebrühten Aufreißer, die ihre Durchtriebenheit hinter einer heuchlerischen Fassade zu verbergen suchten. Im Gegenteil, hinter seinem Lachen spürte man eine echte Freigiebigkeit. Dieser Mann hatte etwas zu geben. Dieser Gedanke zog einen anderen nach sich.
»Entschuldige.«
Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Handy. Keine Nachricht. Verdammter Mist. Sie spürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge und schluckte. Die eigentliche Frage lautete: Weshalb erwartete sie noch immer diesen Anruf? Alles war vorbei. Aber sie wollte es nicht wahrhaben.
6
Auf der Rückfahrt musste Jeanne an Taines Fall denken. Sie war neidisch. Neidisch auf diese Ermittlungen. Fasziniert von der Grausamkeit des Mordes. Von der Spannung und der Komplexität dieser Ermittlung. Sie war Ermittlungsrichterin geworden, weil sie Bluttaten aufklären wollte. Insgeheim wünschte sie sich nichts mehr, als Serienkiller zur Strecke zu bringen. Ihren mörderischen Wahn zu entschlüsseln. Die Grausamkeit im Reinzustand zu bekämpfen.
In den fünf Jahren, in denen sie am Landgericht Nanterre tätig war, hatte sie lediglich die schäbigen kleinen Fälle bearbeitet. Drogenhandel. Eheliche Gewalt. Versicherungsbetrug. Und wenn sie mal in einem Mordfall ermittelte, war das Motiv immer Geld, Alkohol oder gewöhnlicher Hass, der in eine Affekttat mündete ...
Sie überquerte die Porte Maillot und bog in die Avenue Charles-de-Gaulle, Richtung Pont de Neuilly ein. Es herrschte dichter Verkehr. Sie kam nur langsam voran. Jeanne spürte, wie ihr Gedächtnis zu arbeiten begann. Der Fall von François Taine weckte eine Erinnerung. Die schlimmste von allen. Diejenige, die ihre Berufswahl, ihre Einsamkeit, ihre Faszination für Bluttaten erklärte.
Sie umklammerte das Lenkrad, bereit, sich der Vergangenheit zu stellen. Wenn sie an Marie, ihre ältere Schwester, dachte, fiel ihr immer ein
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