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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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und stachen scharf von den erstarrten schwarzen Lavaströmen ab. Die tief hängenden Wolken darüber lösten sich in Dunstschwaden auf. Eine traumumflorte Landschaft, der Kopf in den Wolken ...
    Jeanne betrachtete die Indios, die an der Straße entlangwanderten. In jeder Ortschaft trugen sie eine andere Tracht. Einfallsreiche, farbenfrohe, heitere Webarbeiten, die in der grauen Luft wie Blütenknospen aufsprangen, noch von Tau benetzt.
    »Wie soll sich dieses Land mit solchen Witzfiguren weiterentwickeln? Die leben doch noch im Mittelalter!«
    Jeanne stellte sich taub. Seitdem sie losgefahren waren, hörte Nicolás nicht auf, die Indios zu kritisieren: Sie seien rückständig, scheinheilig, beschränkt und abergläubisch. Mochte er auch ein Kekchi sein, so war er doch vor allem ein hasserfüllter, arroganter Ladino, für den die Maya auf einer Stufe mit Küchenschaben standen.
    Er unterbrach sein rassistisches Gequassel nur, um ein anderes Thema aufzugreifen, das ihm am Herzen lag: die Minderwertigkeit der übrigen Völker Mittelamerikas. Die Nicaraguaner steckten in einer Sackgasse. Die Costa-Ricaner waren Banausen. Die Panamaer hatten sich an die Vereinigten Staaten »verkauft« ...
    Jeanne flüchtete sich in den Schlaf. Die Kälte weckte sie. Zitternd drehte sie sich um und wühlte in ihrer auf dem Rücksitz liegenden Reisetasche. Sie zog ein feinmaschiges Polohemd heraus, um es wenigstens bis zum nächsten Dorf auszuhalten, wo sie sich wettergerecht eindecken wollte.
    »Haben Sie diese Bauerntölpel gesehen?«
    Nicolás deutete auf Tagelöhner, die sich auf der unverdeckten Ladefläche eines vor ihnen fahrenden Lieferwagens drängten. Sie trugen die traditionelle Tracht. Gleich buntscheckigen kleinen Hähnen hockten sie mit mürrischem Blick auf gestapelten Kartoffeln, Bananen- und anderen Obsthaufen.
    »Wissen Sie, warum sie so missmutig aussehen?«
    »Vielleicht ist ihnen kalt?«
    »Nein. Sie sind frisch verheiratet. Sie begleiten den Transport der Früchte. Es ist ein Initiationsritus. Vor der Fahrt haben sie sexuell enthaltsam gelebt.«
    »Wieso?«
    »Damit ihre sexuelle Energie auf die Früchte übertragen wird und sie reifen lässt. Wenn die Früchte bei der Ankunft reif sind, haben sie die Initiation erfolgreich bestanden. Ist das nicht bescheuert?«
    Jeanne antwortete nicht. Sie sagte sich, dass sie mit ihrer aufgestauten Sexualenergie einen ganzen Obstgarten zur Reife bringen würde ... Aber sie hatte die Spöttelei ihres Fahrers allmählich satt. Nicolás schien das zu spüren. In ruhigerem Ton meinte er:
    »Wir kommen gleich nach Sololá, der Bezirkshauptstadt.«
    Häuser aus Adobeziegeln, Beton und Leichtbausteinen. Reklameplakate. Moderne Geschäfte, die mit ihren Farben, ihren Neonröhren, ihrem nutzlosen Krimskrams einem ausgekippten Mülleimer glichen ... Ungeachtet dieser optischen Verschandelung und des feuchten, trüben Wetters konnte jedoch kein Zweifel daran aufkommen, dass man sich in den Tropen befand. Von kleinen fahrbaren Imbissständen, die Jugendliche in löchrigen Pullovern betrieben, stiegen dunkle Rauchwölkchen auf, welche nach Holzkohle, Frittieröl und gegrilltem Mais rochen – typischen Gerüchen dieser Region.
    »Bis zum See sind es nur noch ein paar Kilometer.«
    Die Trachten hatten sich wieder verändert. Die Männer trugen bestickte Caprihosen, Westernhemden und noch immer extragroße Sombreros. Die Frauen waren blau, rosen- und malvenfarben gekleidet. Sie trugen Holz auf dem Rücken, ein Baby auf dem Bauch und ihr gefaltetes Schultertuch auf dem Kopf – die imago mundi , das Abbild des Kosmos.
    »Wir befinden uns jetzt im Gebiet der Quiché«, bemerkte Nicolás, der sich plötzlich schulmeisterlich gab. »Die Quiché zerfallen ihrerseits in mehrere Sprachgemeinschaften, die alle am Ufer des Sees siedeln: die Cakchiquel, die Tzutuhil, die Kekchi ... Nun, das ist kompliziert.«
    Jeanne raunte ihm hinterhältig zu:
    »Sie sind ein gebürtiger Kekchi, oder?«
    Er antwortete nicht. Hinter einer Kurve war der See aufgetaucht. Die völlig glatte Oberfläche des Gewässers wies die seidig-silbrige Textur eines Pantherfells auf. Aber der gegenüberliegende Ufersaum war so weit entfernt, dass er im Nebel verschwand. Auch die drei Vulkane, die über ihn wachen sollten, waren im Dunst unsichtbar. Jeanne war enttäuscht: Sie hatte eine malerische Postkartenlandschaft erwartet. Ein von Wäldern und Basaltformationen eingerahmter See. Doch alles, was sie sah, war eine unermessliche

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