Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
Vom Netzwerk:
Erinnerungen verschwommen. Er erzählt nur bruchstückhaft von seinem Leben im Wald und in der Kaserne. Aber es fehlt der rote Faden. Sein Geist ist wie ein offenes Buch, dessen Seiten miteinander verklebt sind.
    Manchmal verleiht er Affen menschliche Züge. Er bezeichnet sie als sprechende Wesen. Dann wieder schreibt er seinen »Eltern« Rituale und Gewohnheiten zu, die sich auf sein Leben in den Bäumen beziehen. Eines ist sicher: Er hat immer nur Angst und Bedrohung gekannt. Tritte und Schläge in seiner Adoptivfamilie. Kratzer und Bisse unter den Affen.
    3. Februar 1982
    Endlich habe ich die Flucht Juans rekonstruiert. Eines Abends kommt es zu einer brutalen Auseinandersetzung zwischen den Adoptiveltern, den Garcías. Der betrunkene Mann schlägt seine Frau. Offenbar war das Verhältnis zwischen den Eheleuten, beide Alkoholiker, vollkommen zerrüttet. Mitten in der Nacht hat der Vater das Bajonett seines Gewehrs genommen und seiner Frau die Kehle durchgeschnitten. Anschließend hat er sie in der Küche zerstückelt. Diese Szene hat Juan immer wieder gezeichnet (Hugo García hatte seinen Sohn in der Küche gefesselt und geknebelt, um ihn zu zwingen, das »Schauspiel« mitanzusehen). Aber weshalb stand auf der Zeichnung eine ganze Schar von Leuten um die »geopferte« Frau herum? Später in derselben Nacht hatte der Offizier dann versucht, sich mit Benzin selbst zu verbrennen. Man muss also kein Psychiater sein, um zu ahnen, woher der Brandstiftungstrieb bei Juan kommt ...
    Im Morgengrauen hat sich García dann die Kehle aufgeschlitzt – von einem Ohr zum anderen. Da in der Küche immer noch Gegenstände brannten, wäre sein Sohn an dem Rauch erstickt, wenn es ihm nicht gelungen wäre, sich zu befreien. In seiner Panik ist er die Treppe hinuntergestürmt, hat den Kasernenhof überquert und ist in den Wald gerannt, wo er bis zur Erschöpfung weiterlief. Schließlich ist er am Fuß eines Baumes zusammengebrochen. An die Zeit danach kann er sich nicht erinnern. Er stellt keine Verbindung zwischen dieser Flucht und seinem Leben unter den Affen her.
    7. Februar 1982
    Heute Nacht haben wir Juan im Hühnerstall überrascht. Mit meinem Rasiermesser hatte er den Hühnern die Kehle durchgeschnitten und aus ihrem Hals Blut getrunken, wie Wasser aus einer Feldflasche. Die Wände hatte er mit den gleichen Figuren vollgeschmiert, die er auf seinen Zeichenblättern skizziert hat. Als »Farbe« benutzte er dabei allerdings eine scheußliche Mischung aus Blut und Exkrementen.
    Die Freiwilligen fürchten sich vor ihm. Einige haben die Krankenstation bereits verlassen. Es geht das Gerücht um, Juan sei ein »Sohn des Teufels«. Ich habe ihn in eine fensterlose kleine Kammer eingesperrt, um ihn zu bestrafen. Er soll begreifen, dass er auf dem falschen Weg ist. Wie kommt er nur auf solche Gedanken? Was treibt ihn um?
    9. Februar 1982
    Nach zwei Tagen »Dunkelhaft« habe ich Juan in einem erbärmlichen Zustand angetroffen. Er hatte überall in dem Kabuff seine Notdurft verrichtet und mit seinen Exkrementen auf die Wände geschrieben. Sein Hemd und seine Hose waren mit Sperma verkrustet. Seine ersten Pollutionen. Die Pubertät hat also begonnen. Aber worauf wird sich sein sexuelles Verlangen richten?
    Mir ist ein schrecklicher Gedanke gekommen. Das Blutbad hat seine erste sexuelle Erregung ausgelöst. Ich bete für ihn. Gott, der unsere Missionsstation seit langem verlassen hat, darf Juan nicht vergessen. Ich schäme mich, es zu schreiben, aber ich bin der Meinung, dass Gott uns dies schuldig ist. Dieses Kind zu retten im Namen all derjenigen, die er hier sterben ließ ...
    24. Februar 1982
    Juan ist jetzt ruhiger. Ich habe den Verdacht, dass er an einer Art Infektionskrankheit ähnlich der Tollwut leidet. Aber die medizinischen Untersuchungen haben dies nicht bestätigt. Sind gründlichere Untersuchungen angezeigt? Sie wären nur in Buenos Aires möglich.
    3. März 1982
    Oberst Pellegrini ist wieder aufgetaucht. Jetzt ist es amtlich: »Joachim«, wie er ihn nennt, wird von einer hochstehenden Persönlichkeit adoptiert werden. Zweifellos ein Mann, der dem Regime sehr nahe steht. Ich muss mit Juan fliehen. Ich muss seine Seele retten.
    11. März 1982
    Juan hat einem behinderten Jungen, den wir vor einigen Monaten aufgenommen haben, eine blutende Bisswunde beigebracht. Wir haben die Wunde versorgt. Wenn Juan an einer Infektionskrankheit leidet, besteht dann Ansteckungsgefahr? Ein weiterer Verdacht, der mit seinem Heißhunger auf Fleisch

Weitere Kostenlose Bücher