Im Wald der stummen Schreie
zusammenhängt: Kannibalismus ... Am gleichen Tag habe ich unweit der Stelle, zu der Juan sein Opfer verschleppte, eine Art Kultstätte entdeckt. Einen merkwürdigen Aufbau aus Tierknochen, Steinen und Reisig. Gewisse Elemente erinnerten an seine Buchstaben. Juan scheint die Regeln eines Rituals zu befolgen. Wo hat er sie gelernt?
13. März 1982
Pellegrini war wieder da. Die erforderlichen Dokumente liegen vor. Der Adoptivvater ist Admiral Alfonso Palin, ein Mitglied der argentinischen Militärjunta. Ein Henker, der zu den gefährlichsten Männern des Landes zählt. Weshalb will Palin Juan adoptieren und nicht einen anderen Jungen? Die Diktatur macht jeden Tag Hunderte zu Waisen. Weshalb hat er sich ausgerechnet Juan ausgesucht? Interessiert ihn vielleicht gerade seine Vorgeschichte? Seine Gewalttätigkeit? Ich habe mich an das Maison Saint Ignace in Brüssel gewandt. Wenn ich will, kann ich umgehend an eine andere Missionsstation in Guatemala wechseln.
21. März 1982
Meine letzten Zweifel wurden letzte Nacht ausgeräumt. JUAN IST EIN KANNIBALE . Er wurde auf dem Friedhof hinter der Krankenstation angetroffen, wo wir unsere Toten beisetzen. Juan hat mehrere Leichen ausgegraben, die erst kürzlich beigesetzt wurden, und Teile davon verzehrt. Es fällt mir schwer zu beschreiben, was ich gesehen habe. Der Junge hat mit einem Stein die Schädel eingeschlagen, um die Gehirnmasse zu schlürfen. Er hat die Knochen der Gliedmaßen zertrümmert, um das Rückenmark herauszusaugen. Woher kennt er diese Techniken? Hatte er schon Menschenfleisch verzehrt? Abreisen. Die Missionsstation verlassen. Juan retten. Hier verstärkt sich das Klima des Hasses immer mehr. Ich befürchte, dass sie den Jungen, den sie für einen »Besessenen« halten, lynchen wollen ... Mein Dilemma: die Kinder im Waisenhaus, die Patienten in der Krankenstation verlassen, um zu versuchen, Joachim zu retten, der immer gewalttätiger wird. Aber ist das nicht der Sinn unserer Sendung? Ständig wiederhole ich für mich die Worte Christi: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zur Umkehr zu rufen, nicht die Gerechten.«
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Jeanne las nicht weiter. Ihre Hände zitterten. Es war noch zu früh, um alle Informationen in diesem Tagebuch mit den Ergebnissen ihrer eigenen Nachforschungen abzugleichen. Aber dass es zahlreiche Verbindungen gab, lag offen zutage. Ungeachtet aller Lücken und Unklarheiten bot Juans Geschichte einen ersten Erklärungsansatz für die blutigen Morde in Paris ...
Elf Uhr vormittags.
Der beklemmende Tag blieb in den graugrünen Schimmer eines Aquariums getaucht. Umso besser. Sie setzte die Lektüre fort. Überflog mehrere Seiten, auf denen Roberge ausführlich seine Reise nach Guatemala schilderte. Dann kehrte er in die Gegenwart zurück: Oktober 1982 in der Missionsstation San Augusto, Panajachel, Guatemala.
Der Zeitpunkt der Tragödie.
Am Morgen des 18. Oktober 1982 war Juan verschwunden. Am nächsten Tag fand man ihn mit zerrissenen Kleidern – beharrlich schweigend. »Praktisch in demselben Zustand wie ein Jahr zuvor«, schrieb der Geistliche resigniert.
Dann war in einer teilweise abgebrannten Holzhütte die halb verzehrte Leiche der jungen Indiofrau gefunden worden. Der Mörder hatte versucht, die Spuren seines Verbrechens durch den Brand zu beseitigen.
Kannibalismus. Pyromanie. Pierre Roberge hatte keinerlei Zweifel an der Identität des Mörders. Und auch nicht an dem Ergebnis der Ermittlungen: Juan, der auch hier als »Kind des Teufels« galt, würde schon bald der Tat bezichtigt werden. Er würde verhaftet, in eine geschlossene Anstalt eingewiesen oder hingerichtet werden. Roberge wollte dies verhindern. »Ich weiß, was mir zu tun bleibt«, lauteten seine letzten Worte am 22. Oktober.
Der Jesuit bezichtigte sich des Mordes, nahm Kontakt mit Oberst Pellegrini auf und bat ihn, den Jungen in Atitlán abzuholen. In gewisser Weise war es der Sieg des Bösen. Roberge war es nicht gelungen, Juan zu heilen, und nun vertraute er das Kind auch noch einem blutrünstigen Folterknecht an. Aus einem offensichtlichen Grund: Juan / Joachim musste vor dem Gesetz geschützt werden. Seine kriminelle Karriere begann gerade erst. Sein Adoptivvater aber konnte ihn in Argentinien vor dem Zugriff der irdischen Justiz bewahren.
Roberges Vorhaben scheiterte. Niemand glaubte ihm. Zudem fand seine Verhaftung unter besonderen Umständen statt: Die Ladinos mussten sich bei der Verfolgung von
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