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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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einem Garten Eden ...
    Eine spannende Herausforderung.

 
    72
    Tucumán war nicht gerade die Hauptstadt des Paradieses.
    Eine Art Labyrinth ohne Anfang und ohne Ende, in dem die Häuserblocks streng symmetrisch angeordnet waren. An jeder Kreuzung entsprang ein Netz von Verkehrsadern, welche ihrerseits zu weiteren Kreuzungen führten, die wie Kopien der ersten anmuteten, und so weiter. Eine Geometrie ohne Rand und ohne Zentrum. Aber keine Geisterstadt, die vom Wind und vom Nichts beherrscht wurde. Im Gegenteil, eine von Geschäftigkeit und Vitalität überströmende Stadt. An diesem Morgen wimmelte es hier von Fußgängern, Autos und Bussen.
    Jeanne und Féraud begaben sich zunächst zum Institut für Agrarwissenschaft. Wie sie erfuhren, bereitete Taïeb eine Ausstellung in einem Kloster im Zentrum vor. Also fuhren sie zurück zur Plaza Independencia . Jeanne musterte die Gesichter der Passanten, in der Mehrzahl Indios. Sie hatte sich geirrt, als sie behauptet hatte, die Vorfahren der Argentinier seien ausnahmslos Europäer gewesen. Bei der Landung der Spanier war dieses Gebiet keineswegs unbewohnt gewesen. Gruppen von Indios, kleine Ethnien, lebten verstreut überall auf diesem Territorium. Diese Völker waren nach altbewährter europäischer Manier niedergemetzelt, unterworfen, mit Krankheiten infiziert und ausgebeutet worden. Tucumán, ein ökonomisches Zentrum, war voll von diesen Schattenkindern der Kolonisierung.
    Plaza Independencia. Jeanne fand sich in einer altvertrauten Umgebung wieder. Ein großer Platz, wie er typisch war für eine südamerikanische Stadt. Die Palmen. Der Gouverneurspalast im kolonialen Stil. Die prächtige Kathedrale. Die Passanten, die auf den Sitzbänken sparsam Sonne tankten, als würden sie in kleinen Schlucken einen Likör aus Licht trinken.
    Was vor allem ins Auge fiel, war die Klarheit der Szenerie. Unter dem grellblauen Himmel wirkte jedes Detail so fein ausgearbeitet wie ein schmiedeeiserner Gegenstand, der zunächst bis zur Weißglut erhitzt und dann in kaltem Wasser abgeschreckt worden war. Das beiläufigste Element, das unscheinbarste Gesicht wirkte wie gemeißelt in der Sonnenhitze und dem eisigen Wind.
    Das Kloster befand sich in einer Fußgängerzone, die an den Platz angrenzte. Wieder einmal bezahlte Jeanne das Taxi. Von nun an würde sie Féraud als ihren Gast betrachten. Sie tauchten in die Menge ein und entdeckten zwischen zwei Supermärkten das Kloster, auf dessen schmutzstarrender Fassade ein Plakat stolz verkündete: »DE LA PUNA AL CHACO, UNA HISTORIA PRECOLOMBINA«. Nach Jeannes Erinnerungen waren Puna und Chaco Namen von Regionen im Norden Argentiniens. Sie stellten sich an der Pforte vor und fragten nach Daniel Taïeb.
    Sie wurden durch das Gebäude geführt. Der erste Saal war der Dauerausstellung gewidmet. Die sakrale Kunst in den ersten Jahrhunderten nach der Eroberung durch die Spanier. Bemalte Holzstatuen des Jesuskindes, die Chucky der Mörderpuppe glichen. Furchterregende Madonnen mit bleichem Gesicht und Rosshaar. Statuen von fanatisch wirkenden Jesuiten mit langen Bärten. Kelche, Kreuze, Bibeln und Alben erinnerten an alte landwirtschaftliche Werkzeuge, mit denen der Glaube auf dem neuen Kontinent verbreitet und kultiviert werden sollte ...
    Der zweite Saal war in Dunkel getaucht. Orangefarbene Wände. Von hinten beleuchtete Höhlen mit Obsidianspitzen, behauenen Steinen und Menschenschädeln darin. Jeanne las die Tafeln und fand das bestätigt, was ihr Penélope Constanza gesagt hatte: kein einziges Fundstück, das älter als 10 000 Jahre war. Die amerikanische Vorgeschichte war sehr jung ...
    »Sind Sie die Franzosen, die mich sprechen wollen?«
    Jeanne entdeckte im orangefarbenen Dämmerlicht einen kleinen Mann mit sonnengebräuntem Gesicht und einem strahlenden Lächeln. Ein silberner Haarkranz zierte seinen kahlen, speckig glänzenden Schädel. Auf der Schulter trug Daniel Taïeb einen Schemel.
    Sie hatte gerade genug Zeit, um ihren Namen und den von Féraud zu nennen, als der Mann auch schon wieder das Wort ergriff:
    »Sie haben Glück, dass wir gerade eine Ausstellung vorbereiten. Wir haben hier die vollständigste Sammlung an Fundstücken der ...«
    »Wir sind keine Archäologen.«
    Taïeb riss die Augen auf.
    »Nein?«
    »Ich bin Ermittlungsrichterin in Paris, und mein Freund hier ist Psychiater.«
    Er starrte sie mit großen Augen an. Seine Iriden wechselten in einem fort die Farbe – von Grün zu Blau zu Grau. Jeanne ahnte, dass sein Gehirn

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