Im Wald der stummen Schreie
aufgewühlt hat?«
Taïeb antwortete nicht gleich. Man hörte nur das Pfeifen der Kaffeemaschinen, das Klirren von Tassen, das laute Stimmengewirr. Er bestellte noch einen Kaffee. Mit starrem Blick schien er seine Erinnerungen noch einmal an sich vorüberziehen zu lassen.
»Ja, natürlich. Er konnte es nicht für sich behalten. Angeblich hatte er Beweise gefunden, die es zwingend erforderlich machten, die Urgeschichte des Menschen in Amerika vollkommen umzuschreiben. Danach sollte der Mensch nicht erst vor 10 000 Jahren, sondern schon vor 300 000 Jahren in Amerika eingewandert sein!«
»Das würde bedeuten, dass er Überreste von Proto-Cro-Magnon-Menschen gefunden hat.«
Der Anthropologe zog eine Braue hoch. Plötzlich wirkte er argwöhnisch. Als hätte Jeanne ihm absichtlich verschwiegen, dass sie profunde paläontologische Kenntnisse hatte.
»Ich bin keine Expertin«, meinte sie beschwichtigend. »Ich habe mich nur informiert.«
»Genau«, fuhr er fort und nickte mit dem Kopf. »Er behauptete, den Schädel eines Jugendlichen ausgegraben zu haben, der Ähnlichkeiten mit den Schädeln früher Formen des Homo sapiens aufweise. Dieser Schädel, so sagte er, zeige alle typischen Merkmale dieser Familie. Wir sprechen hier von Menschen, die vor über 300 000 Jahren Afrika bevölkerten und die er in Argentinien nachgewiesen haben wollte!«
Der zweite Kaffee kam. Zuckerdose, Würfelzucker, Umrühren ...
»Diese Annahmen sind schon aus geologischen Gründen unhaltbar «, führte er aus. »Der Homo sapiens sapiens ist in Afrika entstanden. Anschließend hat er sich über Europa und Asien ausgebreitet. Und dann ist er über einen Landstreifen, der die Beringstraße überbrückte, als der Meeresspiegel gesunken war, trockenen Fußes auf den amerikanischen Kontinent gelangt. Wir kennen nicht die genauen Daten, aber man nimmt an, dass sich dieses Phänomen vor 20 000 bis 30 000 Jahren ereignete. Anschließend haben sich diese Frühmenschen auf dem gesamten amerikanischen Kontinent ausgebreitet. Die Hypothese de Almeidas ist folglich absurd, es sei denn, man nimmt an, uns unbekannte klimatische Phänomene hätten das Beringmeer in einer anderen, noch weiter zurückliegenden Zeit ausgetrocknet. Oder aber man geht davon aus, gewisse Proto-Cro-Magnon-Menschen wären schon damals tüchtige Seefahrer gewesen.«
»Und was spricht dagegen?«
»Was spricht dagegen, in der Tat? Sofern es Beweise gibt. Aber bislang hat keine einzige wissenschaftliche Studie auch nur den geringsten Anhaltspunkt dafür geliefert.«
Daniel Taïeb räumte also selbst ein, dass er seine Vorbehalte fallen lassen würde, wenn man ihm handfeste Indizien präsentierte.
»Kommen wir zurück zu den Grabungen de Almeidas.«
»Er wollte die Gegend ein drittes Mal erforschen. Aber weder unser Institut noch die Universität Buenos Aires waren bereit, seine Expedition zu finanzieren.«
»Hat er sie aus eigener Tasche bezahlt?«
»Genau. Er wollte einige Fakten überprüfen. Und was kam dabei heraus? Er ist spurlos verschwunden. Noch ein Verrückter, der sich für eine Sache geopfert hat.«
»Haben Sie eine Suchaktion gestartet?«
»Klar. Aber wo genau sollten wir beginnen? Wie alle Forscher hat de Almeida seine Fundstellen geheim gehalten. Seine Spur verliert sich in einem kleinen Dorf zweihundert Kilometer nördlich von Formosa – in Campo Alegre.«
»Sagt Ihnen der Wald der Manen etwas?«
»Nein. Soll der in dieser Gegend sein?«
Jeanne entschloss sich, ihren bereits lauwarmen Kaffee zu trinken. Taïeb rührte noch immer nachdenklich in seiner Tasse herum.
»Am merkwürdigsten war, dass de Almeida nicht nur behauptete, die Spuren der ersten menschlichen Besiedlung auf dem Kontinent entdeckt zu haben. Er behauptete, er habe auch den Ursprung des Bösen enthüllt.«
»Den Ursprung des Bösen?«
»Seine Grabungen, so sagte er, hätten ihn zu einer Kultstätte geführt, die Schauplatz eines Verbrechens gewesen sei. Um den Schädel eines Jugendlichen und sein Skelett hätten andere sterbliche Überreste gelegen. Knochen von etwa vierzigjährigen Erwachsenen. An diesen Knochen hätten sich ganz bestimmte Spuren gefunden. Sie seien mit Hilfe von Feuersteinen zertrümmert, abgeschabt und zerstückelt worden. Sie verstehen, was ich meine.«
»Der Jugendliche war Kannibale?«
»Ja, aber es gab noch ein weiteres Detail ... De Almeida hatte angeblich die DNA dieser Gebeine analysieren lassen – was übrigens sinnlos ist: An so alten Knochenresten kann man
Weitere Kostenlose Bücher