Im Wald der stummen Schreie
riesigen Schirm aus moiriertem dunklem Stoff, in den der Wind hineinfuhr und dabei wandernde Skulpturen aus Wasserdampf bildete, die sich ständig neu formten.
Ein als Privatwagen getarntes Polizeiauto erwartete sie in der Avenue Joliot-Curie. Der Kollege von Reischenbach, ein gewisser Leroux, setzte sich ans Steuer. Der Kommissar nahm neben ihm Platz. Die Richter und die Assistentin setzten sich auf die Rückbank.
Noch bevor der Peugeot losfuhr, fragte Taine:
»Ihr Name?«
»Das Opfer heißt Nelly Barjac. Achtundzwanzig Jahre.«
»Ihr Job?«
»Technikerin in einer Firma für medizinische Analysen. Sie wurde in der Tiefgarage der Firma getötet.«
Jeanne saß rechts, gepresst an die Schulter der Assistentin in der Mitte.
»Sie wurde mitten in der Nacht umgebracht«, fuhr Reischenbach fort. »Sie arbeitete bis spät abends und ging als Letzte. Der Mörder muss ihr unten aufgelauert haben. Er hat sie in dem Moment überrascht, als sie in ihre Kiste stieg.«
»Hat er sie an Ort und Stelle getötet?«
»Nicht ganz. Er hat sie in ein anderes, tiefer gelegenes Untergeschoss geschleppt. Offenbar kannte er sich aus. Entweder er arbeitet dort, oder er hat sich genauestens mit den Örtlichkeiten vertraut gemacht. Jedenfalls ist er den Überwachungskameras ausgewichen.«
»Wer hat die Leiche entdeckt?«
»Ein Wachmann, sehr früh am Morgen. Es regnete. Er hat die unterirdischen Abschnitte, über die das Regenwasser abfließen soll, überprüft. Es hat eine Zeitlang gedauert, bis er erkannt hat, dass es sich bei dem Opfer um einen Menschen handelte.«
Nach jeder Antwort schwieg Taine einen Moment. Als würde er die Informationen in einer bestimmten Schublade seines Gehirns verstauen. Jeanne hörte zu, während sie gleichzeitig versuchte, sich in der Pariser Vorortzone zu orientieren. Unmöglich. Straßen. Schilder. Zahlen. Alles im Regen verschwommen. Der Himmel schien sich auszudehnen. Angeschwollen wie ein grauer Schwamm. Manchmal durchzuckte ein Blitz die Landschaft.
Der Fahrer machte einen großen Bogen um Paris und fuhr von Norden her nach Seine-Saint-Denis hinein. Der Bildschirm des Navigationssystems, das am Armaturenbrett befestigt war und das in kurzen Abständen die einzuschlagende Richtung anzeigte, war das einzige Klare in diesem Unwetter.
»Was für ein Unternehmen ist das genau?«
Reischenbach zog ein Notizbuch aus seiner Jacke und setzte dann eine Brille auf.
»Eine Firma für Zellgenetik. Sie führen Untersuchungen an Embryonen durch. Ich weiß nicht genau, was das für Analysen sind.«
»Meine Frau hat auch mal eine solche Untersuchung machen lassen«, warf der Fahrer ein. »Man will herausfinden, ob sich der Fetus normal entwickelt.«
»Eine Amniozentese.«
Alle Blicke richteten sich auf Jeanne. Sie fuhr fort, wobei sie sich bemühte, locker zu klingen – vor allem nicht schulmeisterlich:
»Der Gynäkologe entnimmt aus dem Uterus der Schwangeren eine geringe Menge Fruchtwasser. Anschließend werden abgeschilferte Zellen des Fetus oder der Fetalmembran isoliert und angezüchtet, woraufhin die Chromosomen analysiert werden, um den Karyotyp der Leibesfrucht zu bestimmen.«
Taine fragte, während er nach draußen blickte, als würde ihn die Antwort nicht interessieren:
»Was ist ein Karyotyp?«
»Die Chromosomenkarte eines Kindes. Die dreiundzwanzig Chromosomenpaare, die seine weitere körperliche Entwicklung festlegen. Dies ermöglicht es, eine eventuelle Anomalie auf einem der Paare zu entdecken. Wie beispielsweise die Trisomie 21. In Paris wird diese Untersuchung nur von ganz wenigen Laboren durchgeführt. Wie heißt dieses?«
Reischenbach sah in seinem Notizbuch nach und wandte sich dann Jeanne zu:
»Pavois. Kennen Sie es?«
Jeanne schüttelte den Kopf. Beinahe hätte sie noch hinzugefügt, dass sie solche Probleme nicht hatte. Dass sie nicht schwanger war. Dass sie keinen Typen hatte. Und dass ihr Leben scheiße war. Aber sie verkniff es sich. Sie war hier als Richterin. Das war nicht der geeignete Zeitpunkt, anderen sein Herz auszuschütten.
»Das erste Opfer«, fuhr Taine, an einen der beiden Polizisten gewandt, fort, »arbeitete in einer Betreuungsstätte für entwicklungsgestörte Kinder, oder?«
»Ja. Kinder, die an ...« Reischenbach blätterte in seinem Notizbuch, »sogenannten tiefgreifenden Entwicklungsstörungen leiden.« Die Brille absetzend, fragte er Taine: »Glauben Sie, dass es eine Verbindung zwischen diesen entwicklungsgestörten Kindern und den Amniozentesen
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