Im Wald der stummen Schreie
schräg gegenüber postiert.
Ihr Plan war einfach, um nicht zu sagen schlicht. Sie wollte den Psychiater am Eingang des Gebäudes abpassen. Dann seine Handynummer anrufen, um zu überprüfen, ob es sich tatsächlich um ihn handelte. Um ihm dann zu folgen ... Jetzt wartete sie schon seit einer Stunde, beobachtete den großen steinernen Vorbau, der von der spätnachmittäglichen Sonne sanft erwärmt wurde. Bislang hatten lediglich zwei Männer und eine Frau das Gebäude verlassen.
Keine Spur von Antoine Féraud.
Innerhalb dieser Stunde hatte sie genug Zeit gehabt nachzudenken. Vor allem über die Lächerlichkeit dieser Situation: Eine Ermittlungsrichterin, die sich in ihrem Wagen versteckte und einem Psychiater auflauerte, dessen Stimme sie verführerisch fand. Leidenschaftlich. Sie war doch eine Romantikerin. Immer wieder versuchte sie, sich ihn vorzustellen. Hochgewachsen, schlank, aber nicht mager. Braune Haare, lange Hände – die Hände waren für sie sehr wichtig. Und vor allem: ein ausdrucksstarkes Gesicht. Sie hatte keine konkreten Vorstellungen von seinem Gesicht, aber es wies gewiss markante Züge auf. Herausgemeißelt von einem echten Charakter. Eine Entscheidungsstärke, die sich in einer ganz bestimmten Physiognomie manifestierte.
Noch eine halbe Stunde. Sie schaltete das Radio ein. Harmloser Rock. Ihre Gedanken schweiften ab. Thomas würde nicht mehr anrufen. Auch sie hatte nicht angerufen. Wenn es keine Hoffnung mehr gab, blieb wenigstens der Stolz. Sie dachte auch an Osttimor und ihre Vorladungen, die bestimmt ein Schlag ins Kontor sein würden. An die richterliche Anordnung der Lauschoperation gegen Féraud, die sie noch immer nicht ausgestellt hatte. Ein weiterer Bumerang und ....
Ein Mann trat aus dem Eingang heraus.
Auf den ersten Blick wusste sie, dass er es war.
Ein Meter achtzig, spindeldürr, langes, schwarzes Haar. Ein hageres Gesicht mit einem Dreitagebart. Trotz der buschigen schwarzen Brauen fehlte es dem Gesicht an männlicher Ausstrahlung. Vor allem das rundliche, fliehende Kinn drückte nicht die Entschlossenheit aus, die sich Jeanne gewünscht hätte. Man kann nicht alles haben. Aber vor allem eines passte nicht: sein Alter. Féraud schien um die fünfunddreißig zu sein. Dem Klang seiner Stimme nach hatte sie ihn zehn Jahre älter geschätzt ...
Sie wählte die Nummer. Der Mann blieb stehen, wühlte in seinen Taschen. Er trug einen zerknitterten hellgrauen Leinenanzug, an dem sein Arbeitstag seine Spuren hinterlassen zu haben schien.
»Hallo?«
Sie legte auf. Ein wohliger Schauer überkam sie, als er ganz nah an ihr vorbeiging und die Einfahrt zur Tiefgarage in der Rue Soufflot ansteuerte. Bevor er verschwand, fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. Lange Pianistenfinger. Diese Hände machten das Marderkinn und sein jugendliches Aussehen wett.
Jeanne drehte den Zündschlüssel. Sie sah, dass die Tiefgarage zwei Ausfahrten hatte, auf der linken und der rechten Seite der Straße. Wo würde er herauskommen? Was für ein Auto fuhr er? Da sah sie, wie auf der anderen Straßenseite ein heruntergekommener Motorroller Richtung Boulevard Saint-Michel düste. Ihr blieb gerade noch die Zeit, unter dem Helm das Gesicht zu erkennen. Féraud. Sie schaltete in den ersten Gang und wendete. Der Psychiater hielt bereits vor der roten Ampel am Boulevard Saint-Michel; durch den Blinker zeigte er an, dass er rechts abbiegen wollte – Richtung Seine. Einige Sekunden später kam Jeanne hinter dem Motorroller zum Stehen. Ihr Herz klopfte vor Erregung.
Grün. Féraud fuhr den Boulevard Saint-Michel hinunter, vorbei an dem Brunnen auf der Place Saint-Michel, und bog links in die Seineuferstraße ein. Er fuhr gemächlich, wie ein Mann, der weder in Eile noch gestresst ist. Würde er sich mit einer Frau treffen? Jeanne öffnete und ballte in einem fort ihre Fäuste am Lenker. Ihre Handflächen waren feucht. Sie hatte das Radio ausgeschaltet. Mit ihrer schwarzen Sonnenbrille schien sie der Parodie eines Spionagefilms entsprungen zu sein.
Auf dem Quai des Grands-Augustins gab Féraud Gas. Quai de Conti. Quai Malaquais. Quai Voltaire. Er wechselte auf die Schnellspur und fuhr langsamer. Jeanne ließ zwei Fahrzeuge zwischen sich und den Motorroller. Alles lief gut. Sie konnte sogar die Schönheit der Umgebung genießen. Die Brücken, die in der Abenddämmerung aufflammten. Die Gebäude auf dem rechten Seineufer, die in ihrem eigenen Schatten versanken. Die Seine, deren Wasser sich wie zäher Schlamm
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