Im Wald der stummen Schreie
aneinander rieben, bis sie sich erhitzten, bis sie reißen würden. Féraud erhob die Stimme, und es gelang ihm, Joachim aus seiner Hypnose herauszuholen. Auf seine Weisung hin trat abermals Schweigen ein.
»Joachim, hören Sie mich?«
»Ich höre Sie, ja.«
Die Stimme des Mannes war wieder da.
»Wie fühlen Sie sich?«
»Erschöpft.«
»Erinnern Sie sich an das, was Sie mir unter Hypnose gesagt haben?«
»Nein.«
»Sehr gut. Für heute sind wir fertig.«
»Was fehlt mir, Doktor?«
Joachim sprach wieder in dem gleichen scherzhaften Ton wie zuvor, doch seine Angst war deutlich zu spüren.
»Das kann ich noch nicht sagen. Wären Sie bereit zu weitergehenden Untersuchungen und zu regelmäßigen Behandlungen?«
»Zu allem, was Sie wollen«, stöhnte Joachim geschlagen.
»Ich würde jetzt gern mit Ihrem Vater sprechen, unter vier Augen.«
»Kein Problem. Auf Wiedersehen, Doktor.«
Quietschende Stühle. Eine Tür fiel ins Schloss. Dann die bebende Stimme des Vaters:
»Ist es nicht erschreckend?«
»Überhaupt nicht. Aber wir müssen Untersuchungen durchführen. Abklären, ob keine neurologischen Störungen vorliegen.«
»Unmöglich!«
»Ihr Sohn – ich will sagen: die Person, die ich unter Hypnose befragt habe – zeigt spezifische Symptome.«
»Symptome wovon?«
»Pronominale Inversion. Die Wiederholung von Fragen. Echolalie. Selbst sein Gesicht: Ist Ihnen aufgefallen, wie sich sein Gesicht verzerrt hat, als der Andere sprach ...«
»Symptome WOVON?«
»Autismus.«
»Ich will dieses Wort nicht hören.«
»Haben Sie ihn denn nie deshalb behandeln lassen?«
»Sie kennen seine Lebensgeschichte. In den ersten Jahren war ich nicht da.«
»Wie war seine Beziehung zu seiner Mutter?«
»Seine Mutter ist bei seiner Geburt gestorben. Ay, dios mío , haben Sie denn nicht zugehört?«
»Ich verstehe nicht, was Sie mit diesem Kind getan haben.«
»In meinem Land war das allgemein üblich. Alle haben das gemacht.«
Sie sprachen leise. Jeanne versuchte sich die Situation vorzustellen. Féraud hatte die Jalousien noch nicht wieder hochgezogen. Sie befanden sich also noch immer im Halbdunkel.
»Ich muss mehr über seine Vergangenheit wissen«, fuhr Féraud fort. »Was meint er Ihrer Meinung nach, wenn er vom ›Wald der Manen‹ spricht?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich war noch nicht da.«
»Und diese spanischen Worte, die er ständig wiederholt – wissen Sie, was das ist?«
»Ja. Es ist der Text eines spanischen Songs aus den siebziger Jahren. Porque te vas. Das Lied zu dem Film Cria Cuervos . Sobald er sich bedroht fühlt, wiederholt er diese Worte.«
»Er muss behandelt werden. Sein Zustand ist ... komplex. Die Existenz einer zweiten Persönlichkeit könnte bedeuten, dass er auch an Schizophrenie leidet. Die Symptome gleichen manchmal denen des Autismus. Er muss einige Tage stationär behandelt werden. Ich halte Sprechstunden in einer ausgezeichneten Klinik ab und ...«
»Das geht nicht! Ich habe es Ihnen doch schon erklärt. Bei einer stationären Aufnahme käme die Wahrheit ans Licht. Unsere Wahrheit . Das ist unmöglich. Allein Gott kann uns jetzt noch helfen. ›Und der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre ...‹«
Féraud schien nicht mehr zuzuhören. Er sagte wie zu sich selbst:
»Ich mache mir Sorgen, um ihn, um die anderen.«
»Es ist zu spät.«
»Zu spät?«
»Ich glaube, dass er heute Nacht jemanden töten wird. In Paris, im 10. Arrondissement. Er treibt sich ständig in Belleville herum.«
17
Jeanne hatte die ganze Nacht praktisch kein Auge zugetan. Emotionen, Gedanken, Stimmen hatten sich in endlosen Albträumen miteinander verflochten. Die Begegnung mit Antoine Féraud. Ich lade Sie zu einem Eis ein. Dann die digitale Aufnahme. Die Hypnose-Sitzung. Die Stimme des Anderen. Der Wald beißt dich. Und die Befürchtungen des Vaters. Ich glaube, dass er heute Nacht jemanden töten wird. In Paris, im 10 . Arrondissement ...
Im Grunde glaubte sie an gar nichts. Weder an eine sich anbahnende Liebesaffäre noch an einen potenziellen Mord. Die Begegnung war zu schön gewesen, um wahr zu sein. Und wie stand es um die Wahrscheinlichkeit eines Verbrechens, das in der Praxis eines Psychiaters angekündigt wurde? Des Psychiaters, gegen den sie gerade erst Abhörmaßnahmen angeordnet hatte? Unmöglich.
Féraud selbst glaubte es nicht. Sonst hätte er sich doch nicht eine Ausstellung über die Wiener Secession angesehen. Er hätte doch nicht mit einer
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