Im Wald der stummen Schreie
Rothaarigen, der er zufällig begegnet war, geschäkert. Gleichzeitig begriff sie jetzt, warum er so mitgenommen ausgesehen hatte. Warum sie hinter seiner aufgesetzten Heiterkeit eine Besorgnis gespürt hatte. Würde es zu diesem Mord kommen? Sollte er die Polizei verständigen? Jeanne lächelte. Wenn sie ihm ihren wahren Beruf mitgeteilt hätte ...
Sie stand auf, blickte auf ihre Uhr. Neun. Es war Samstag, und die gesamte Wohnung war bereits sonnendurchflutet. Sie ging in die Küche und bereitete sich einen Nespresso. Der Geruch und Geschmack von verbrannter Erde. Sie verzichtete auf ihre Butterbrote. Wie gewöhnlich nahm sie ihre Trevilor ein, wobei sie sich in der verchromten Außenseite des Kühlschranks betrachtete. Sie trug das T-Shirt, das gegen die Olympischen Spiele in Peking protestierte – die olympischen Ringe waren durch Handschellen ersetzt – und Boxershorts von Calvin Klein. Immer wieder musste sie daran denken, was der Vater gesagt hatte: Ich glaube, dass er heute Nacht jemanden töten wird. Im 10. Arrondissement.
Als Richterin konnte sie das leicht überprüfen. Sie brauchte nur beim Pariser Polizeipräsidium anrufen und nachfragen, ob gestern Nacht in Paris eine Leiche entdeckt worden war. Und falls das »mörderische Kind« wieder zugeschlagen und die Leiche in einem Pariser Vorort beseitigt hatte, konnte sie sogar die Staatsanwaltschaften der Île-de-France anrufen. Sie kannte alle Staatsanwälte. Oder fast alle.
Zweiter Nespresso. Sie ging ins Wohnzimmer, machte es sich auf ihrem Sofa bequem, vor dem niedrigen Couchtisch. Entnahm ihrer Aktentasche das vom Justizministerium herausgegebene Telefonverzeichnis und griff nach dem Telefon.
Zuerst rief sie das Büro des Oberstaatsanwalts im Pariser Polizeipräsidium an. Kein Mord in der vergangenen Nacht. Jedenfalls war bislang kein Leichenfund gemeldet worden. Aber es war ja noch nicht einmal zehn Uhr. Und es war Samstag, was die Entdeckung um bis zu zwei Tage verzögern konnte, falls die Leiche in einem Büro, einer Lagerhalle oder einem anderen gewerblich genutzten Raum abgelegt worden war.
Anschließend rief sie bei der Staatsanwaltschaft Nanterre an.
Nichts.
Bobigny.
In Gagny war letzte Nacht ein Mord passiert. Eine Schlägerei zwischen Alkoholikern. Der Täter war bereits hinter Gittern.
Créteil.
Nichts.
Jeanne suchte die Nummern der Staatsanwaltschaften der Departements Essone, Val-d'Oise und Yvelines heraus.
Versailles.
Nichts.
Cergy.
Ein Obdachloser, der in der Seine ertrunken war.
Meaux.
Nichts.
Melun.
Eine Frau war von ihrem Ehemann umgebracht worden.
Fontainebleau.
Nichts.
Pontoise.
Nichts ...
Sie sah auf ihre Uhr. Fast elf. Sie hatte ihre Pflicht getan. Bei jedem Anruf hatte sie den Staatsanwalt gebeten, sie über jeden ungewöhnlichen Leichenfund zu unterrichten. Alle hatten sich dazu bereit erklärt, ohne Fragen zu stellen. Richterin Korowa war bekannt. Sie würde ihre Gründe haben. Jetzt musste sie nur abwarten.
Es war Zeit, diese Geschichte zu vergessen. Trotzdem rief sie beim Führungsstab der Pariser Polizei an der Place Beauvau an, die per Fax über sämtliche Kapitalverbrechen im Bereich der Île-de-France informiert wurde. Ebenfalls keine besonderen Vorkommnisse.
Der Führungsstab der Gendarmerie im Fort de Rosny. Wieder nichts. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie um zwölf einen Termin beim Friseur hatte und anschließend im 8. Arrondissement zum Mittagessen verabredet war.
Rückkehr in die Realität.
Sie zog sich an und frisierte sich. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, entsprach ganz ihren Befürchtungen: Sie sah aus, als hätte sie sich die Nacht rauchend und trinkend um die Ohren geschlagen. Von wegen Julianne Moore ... Durch geschicktes Schminken versuchte sie zu retten, was zu retten war.
Um zwölf Uhr – als sie eigentlich schon den Friseurtermin hatte – verließ sie die Wohnung. Sie trug eine schwarze Jeans, offene Sandalen und ein DKNY-T-Shirt sowie einen Stoffhut – in der Erwartung, dass ihr Friseur Wunder vollbrachte. Sie dachte nicht mehr an den möglichen Mord. Auch nicht an Féraud. An gar nichts.
Auf andere Gedanken kommen.
Das Dringlichste an einem Samstag.
18
Anderthalb Stunden und einen annehmbaren Haarschnitt später betrat Jeanne Korowa das Restaurant, in dem sie verabredet war. An der Bar nannte sie den Namen ihres Gastgebers. Man führte sie zwischen den Tischen hindurch. Hohe Decken, Fenster mit Glasmalereien im Art-Déco-Stil. Und vor allem
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