Im Wald der stummen Schreie
Anstatt in unterirdischen Höhlen – Tiefgaragen, der Kanalisation – vollzog er sein Ritual an diesem einzigartigen Ort, der mehrere Jahrtausende Evolutionsgeschichte des Menschen Revue passieren ließ.
Jeanne dachte an Joachim. Seine Stimme, die leise sang: Todas las promesas de mi amor ... Wieder beschlichen sie Zweifel. War er wirklich der Kannibale? Vielleicht handelte es sich ja nur um einen Zufall.
Die Männer von der Spurensicherung im weißen Overall kehrten zurück.
»Bin gleich wieder da!«, sagte Jeanne zu Taine, der das Wort an den Leiter des Teams richtete.
Sie verließ den Raum und ging in einen Gang hinein, wo sie Reischenbach mit seinem gegelten Haar über den Weg lief. Er zog eine Grimasse. Jedes weitere Opfer rief ihm seine Ohnmacht in Erinnerung. Sie grüßte ihn im Vorbeigehen und entdeckte am Ende des Ganges einen weiteren Raum, der in Dämmerlicht getaucht war. Aus einer vagen Ahnung heraus begab sie sich dorthin.
In der Mitte des Raumes stand ein großer schwarzer Lacktisch. Hinter dem Tisch war eine Samtkordel gespannt, und dahinter sah man eine weitere Gruppe Urmenschen. Zwischen den einzelnen Köpfen lagen evolutionäre Zeiträume von Jahrtausenden, wenn nicht Jahrmillionen – allerdings standen sie durcheinander. Unwillkürlich versuchte Jeanne sie auf der Stufenleiter der Evolution einzuordnen. Linker Hand erspähte sie ein Paar: zwei stark behaarte, zierliche, kleine, schwarze Gorillas. Ein Funkeln in den Augen, ein Anflug von einem Lächeln gaben ihnen etwas Menschliches. Ein Stück weg, ebenfalls links, fletschte ein weiteres Paar die Zähne. Die beiden waren nicht so stark behaart und wirkten intelligenter. Die Sinne geschärft wie die Feuersteine, mit denen sie auf die Jagd gingen und Feuer machten. Die Reibung der Jahrhunderte hatten in ihren Augen einen neuen Funken geschlagen. Eine höhere Intelligenz.
Etwas abseits, wie eine versehentlich eingeladene Familie von Bauerntölpeln, befand sich eine Gruppe von Behaarten mit niedriger Stirn, eine Lanze in der Hand, mit Fellen bekleidet. Dichter Haarschopf, ambossförmige Kiefer, durchdringender Blick. Diese schienen in der Kette eine Sonderstellung einzunehmen. Jeanne hatte Artikel über die Evolution des Menschen gelesen. Sie erinnerte sich an den Neandertaler, der gleichzeitig mit dem Homo sapiens sapiens auf der Erde gelebt hatte, bevor er spurlos verschwand.
Im Innern der Gruppe standen Menschen, die nicht modern, aber auch nicht mehr affenähnlich waren. Das Haar zerzaust, in abgewetzten Kleidungsstücken aus Wildleder, glichen sie den Bürgern von Calais von Auguste Rodin. Zerlumpte, erschöpfte Gestalten. In ihren glasigen Augen schien allerdings die Angst der Schläue gewichen zu sein. Der Mensch war auf dem Vormarsch.
All diese Gesichter spiegelten sich in dem Lacktisch wider, als schickten sie sich an, aus einem schwarzen Tümpel zu trinken. Jeanne bemerkte eine letzte Skulptur, die sich am Ende des Tümpels niederkauerte. Eine Frau, die einen schwarzen Pelz oder dunkle Lumpen trug – sie konnte es nicht richtig erkennen. Auffällig war ihr kurzgeschnittenes rotes Haar. Vielleicht eine Schamanin aus der Frühzeit des Menschen?
Jeanne prallte zurück. Die Statue hatte sich bewegt. Tatsächlich war es eine Frau, die an einem Ende des Tisches saß, versteckt unter einem schwarzen Dreieckstuch. Ihr hochstehendes Haar im Punk-Stil war leuchtend rot. Sie machte einen abwesenden Eindruck.
Jeanne ahnte, dass es die Chefin des Ateliers war. Die Virtuosin, die diesen Frühmenschen Leben einhauchte, war hierhergekommen, um sich innerlich zu sammeln. Ohne nachzudenken, trat Jeanne an sie heran und legte ihr die Hand auf die Schulter. Die rothaarige Frau warf ihr einen Blick zu. Sie zögerte kurz, dann erhellte ein Lächeln den traurigen Ausdruck auf ihrem Gesicht.
Sie erhob sich und reichte Jeanne die Hand.
»Isabelle Vioti. Ich leite das Atelier. Sind Sie von der Polizei?«
»Nein. Jeanne Korowa, Ermittlungsrichterin.«
Erstaunt zog sie die Brauen hoch.
»Ich habe bereits mit einem Richter gesprochen.«
»Ich begleite ihn.«
»Ist das so üblich?«
»Nein, aber dieser Fall ist wirklich ... ungewöhnlich.«
Die Frau setzte sich unvermittelt wieder hin, als hätte dieser Austausch von Höflichkeiten sie bereits überanstrengt. Die Ellbogen auf dem Tisch, barg sie die Stirn in ihren Händen.
»Ich begreife es nicht ... ich begreife es nicht ...«
»Niemand versteht so etwas«, sagte Jeanne. »Wir sind nicht da, um
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