Im Wald der stummen Schreie
Ereignisse zu rekonstruieren. Zweifellos hatte Féraud am Morgen eine dieser Tageszeitungen gelesen. Vielleicht sogar am Vortag das Journal du Dimanche . Ihm war sofort klar, was dies bedeutete, doch er hatte nicht versucht, den Spanier und seinen Sohn zu kontaktieren. Er hatte Angst bekommen und seinen Koffer gepackt. Das konnte man ihm nicht verübeln. Dagegen war nicht anzunehmen, dass er von dem Wohnungsbrand und dem Tod von François Taine wusste.
In der Rue de Milan holte Jeanne ihren Twingo ab, der noch immer vor der Toreinfahrt stand. Einen Moment lang war sie versucht, zum Ort des Brandes zurückzukehren. Aber der Gedanke, durch das schwarz verbrannte Treppenhaus emporzusteigen und den Aschegeruch einzuatmen, hielt sie davon ab.
Sie fuhr mit Vollgas los, Richtung Quai des Orfèvres. Zwanzig Minuten später stellte sie den Wagen im Innenhof des Gebäudes ab, in dem die Pariser Mordkommission ihren Sitz hat. Mühsam erklomm sie die Treppe. Jeder Polizist sah sie schief an. Es kam nicht oft vor, dass ein Richter hier aufkreuzte, vor allem nicht mit angesengten Haaren und geschwärzten Kaminkehrerklamotten.
»Machst du mir Fotokopien von der Akte?«
»Ich weiß nicht, ob ...«
In seinem Büro stehend, trat Reischenbach, schlecht rasiert und mit glänzendem Haar, von einem Fuß auf den anderen. Vor ihm standen die beiden dicken Aktenordner über die Ermittlungen im »Kannibalenmord«.
»Nur die wichtigsten Protokolle.«
Der Polizist rührte sich noch immer nicht. Jeanne beugte sich vor.
»Jetzt oder nie, Patrick. Die Tatsachen sind eindeutig. Der Mörder hat François angegriffen.« Sie klopfte mit der Faust auf den Schreibtisch. »Er ist noch in der Nähe. Mach mir Kopien von diesen Scheißdokumenten, bevor uns der Fall entzogen wird! In einigen Stunden wird ein neuer Richter ernannt. Dann können wir einpacken.«
Reischenbachs gerunzelte Stirn verriet, dass er intensiv nachdachte. Er wirkte nett und freundlich, hatte aber auch eine gefährliche Seite: die Glock im Gürtel und seine riesigen Pranken. Jeanne wusste, dass er bei Einsätzen wenigstens drei Mal von seiner Waffe Gebrauch gemacht hatte.
»Warte hier«, sagte er schließlich und nahm die Aktenordner an sich. »Ich hol Papier.«
Das Papier in den Kopierern war mit dem Amtssiegel der Präfektur gekennzeichnet. Wenn man anonyme Kopien machen wollte, musste man sich nicht gekennzeichnetes Papier besorgen. Alle investigativen Journalisten wussten dies, und auch Borderline-Richter wie Jeanne.
Bald darauf kam Reischenbach mit den Aktenordnern und Papierstößen unter den Armen zurück. Den Originalen und den Kopien. Jeanne blätterte sie durch. Sie enthielten alles. Protokolle der Vernehmungen. Obduktionsberichte. Ergebnisse der erkennungsdienstlichen Recherchen. Porträts der Opfer. Zusammenfassungen der Ermittlungen im Umfeld der Opfer. Aufnahmen der Tatorte und vor allem Bilder des seltsamen Alphabets an den Wänden. Genug Arbeit für den ganzen Nachmittag.
Sie sah auf die Uhr. Zwölf. Jetzt musste sie vor allem die Verbindung finden, die Taine zwischen den drei Opfern hergestellt hatte. Ich hab etwas Unglaubliches entdeckt ... Er wählt sie nicht zufällig aus. Ganz und gar nicht. Er hat einen Plan!
»Kannst du mir die Listen mit den letzten Anrufen besorgen, wenn ich dir zwei Handynummern gebe?«
»Dafür brauche ich eine richterliche Anordnung.«
»Stell den Antrag im Zusammenhang mit einem anderen Fall. Lass dir was einfallen.«
»Reg dich nicht auf.«
Jeanne schrieb die erste Nummer auf einen Klebezettel. Reischenbach verzog das Gesicht:
»Ich kenne diese Nummer. Es ist ...«
»... die von François Taine.«
»Bist du übergeschnappt? Wir können nicht ...«
»Hör zu. Gestern hat François eine wichtige Entdeckung gemacht. Alles ist in seiner Wohnung verbrannt. Uns bleiben jetzt nur noch diese Anrufe, kapiert?«
»Wir fahren voll gegen die Wand. Und die zweite Nummer?«
Jeanne nannte ihm den Namen und die Adresse von Antoine Féraud.
»Wer ist das?«
»Ich werde es dir später erklären. Fordere die Liste an und orte sein Handy.«
»Ich riskiere meine Stellung«, erklärte der Polizist, während er die beiden Post-it-Zettel in die Tasche steckte.
»Aber nicht dein Leben. Denk an François. Noch etwas: Ich suche einen spanischstämmigen Rechtsanwalt, der in Paris praktiziert und dessen Vorname Joachim lautet.«
»Joachim wie?«
»Den Familiennamen kenne ich nicht. Kannst du da jemanden dransetzen?«
Reischenbach schrieb
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