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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Silhouette, aber Jeanne glaubte Details zu erkennen. Ein struppiger Haarschopf. Nackte Schultern. Eine krallenbewehrte Hand, die auf dem Fensterrahmen lag, nach innen gedreht.
    Sie war sich sicher, dass es sie beobachtete, aber in diesem Moment wurden die Augen des Monsters von einem Lichtstrahl getroffen. Sie waren niedergeschlagen und bebten tickartig. Diese Augen sahen sie nicht an.
    Weder sie noch irgendjemanden sonst.
    Diese Augen waren nach innen gerichtet.
    Auf das Ich des Mörders.
    Auf den Wald, der ihm befahl zu töten. Und weiter zu töten.

 
    30
    Als sie aufwachte, war sie völlig benommen.
    Sie hatte ein Drittel der Nacht damit verbracht, sich von dem Schock zu erholen. Das zweite Drittel damit, die bei Féraud entwendeten Akten durchzulesen – ohne das geringste Ergebnis. Gewöhnliche Neurotiker. Keine Spur von einem Vater und seinem mörderischen Sohn. Das letzte Drittel der Nacht, ein paar Stunden, hatte sie dem Schlaf gewidmet, nachdem sie – wieder einmal – Tabletten genommen hatte.
    Das Ergebnis war eine ununterbrochene Abfolge von Albträumen gewesen. Gollum war da. Der gleiche wie in den ersten Träumen. Jetzt befand er sich in der Wohnung von François Taine auf dem Zwischengeschoss, mitten im Flammenmeer. Jeanne wollte schreien, aber die Hitze der Flammen raubte ihr den Atem. Dann sprang das Monsterkind durch eine Tür herein, die es herausgerissen hatte. Da war die Wohnung von Féraud. Jeanne kroch durch den Gang in Richtung eines Spiegels, aber sie kam nicht vom Fleck. Das Kind stand hinter ihr. Und vor ihr, im Spiegel. Es war nackt und schwarz und regte sich nicht mehr. Es flüsterte. Eine abgehackte Litanei. Während seine Augen zuckend auf den Boden starrten. Jeanne floh noch immer, ohne von der Stelle zu kommen, ergriffen von Mitleid für dieses Kind mit der dunklen Haut, den schiefen Zähnen, dem dichten Haarschopf, der dem Schatten glich, den der Wipfel einer Libanon-Zeder auf eine Mauer warf.
    Sie war aufgewacht und wieder eingeschlafen.
    Und dann wieder und wieder aufgewacht ...
    Sie hörte, dass es an der Wohnungstür läutete. Ohne nachzudenken, stand sie auf. Durchquerte das Wohnzimmer. Bemerkte, dass sie eine Pyjamahose von Calvin Klein und ein verwaschenes T-Shirt trug. Gerade mal vorzeigbar. Die Sonne schien. Es würde wieder ein heißer Tag werden.
    Erneutes Läuten. Jeanne stolperte über die auf dem Boden herumliegenden Akten. Aus der Praxis von Féraud. Sie war dem Mörder entkommen. Sie hatte überlebt.
    Es läutete noch einmal.
    Sie öffnete die Tür, ohne sich die Zeit zu nehmen, durch das Guckloch zu spähen oder wenigstens die Kette einzuhängen.
    Der Mann, der vor ihrer Tür stand, war ein Unbekannter. Fünfzig Jahre. Graues Bürstenhaar. Breite Schultern in einer schwarzen Lederjacke. Ein buschiger silberner Schnurrbart.
    Die größte Überraschung aber war das, was er in der Hand hielt.
    Ein Blumenstrauß.
    »Madame Korowa?«
    »Ja?«
    »Ich bin Kommandant Cormier. Wir sind uns bereits begegnet.«
    »Das glaube ich nicht, nein.«
    Der Mann verbeugte sich – ein Kavalier alter Schule.
    »Vorgestern. In einem brennenden Gebäude. Wir trugen Helme. Ohne Sie wäre ich vermutlich vier Stockwerke tief gestürzt. Ich bin Leiter der Feuerwehr des 9. Arrondissements.«
    Jeanne nickte langsam, und die Erinnerungen tauchten wieder in ihr auf. Das verqualmte Treppenhaus. Der brennende Treppenabsatz. Der Feuerwehrmann, der rückwärts aus der Tür herausgestürzt war und auf den Abgrund zutaumelte. Fast hatte sie vergessen, dass sie in dem Chaos einem Mann das Leben gerettet hatte.
    »Es war ein Reflex«, sagte sie, um ihr Verdienst herunterzuspielen.
    »Dem ich mein Leben verdanke.«
    »Kommen Sie herein.«
    Der unangemeldete Besucher kam ihr denkbar ungelegen. Aufgrund der Schlaftablette fühlte sie sich noch benommen. Fetzen nächtlicher Albträume geisterten durch ihr Bewusstsein. Ihre Wohnung war unaufgeräumt. Die Luft war verbraucht, und es roch muffig. Nur das Sonnenlicht rettete das Ganze ein wenig.
    »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, fragte sie mechanisch.
    »Danke, aber ich will nicht stören. Ich bin nur gekommen, um Ihnen zu danken.« Er hielt ihr den Strauß hin. »Nur eine kleine Aufmerksamkeit ...«
    »Bitte«, sagte sie, die Blumen entgegennehmend. »Ich bringe den Strauß kurz in die Küche.«
    Als sie zurückkam, stand der Mann noch immer am Fenster, die Hände hinter dem Rücken. Er war klein, vierschrötig. Auf dem Weg zur Arbeit. Er strahlte

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