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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Spaniers, also fünfzig Jahre aufwärts, entsprach.
    Zweifellos würde das ein Schlag ins Wasser sein. Wenn Féraud seinen Koffer gepackt hatte – und umso mehr, wenn er auf eigene Faust ermittelte –, hatte er mit Sicherheit die Akte des alten Hidalgo mitgenommen. Außerdem musste der Mann nicht unbedingt einen spanisch klingenden Namen tragen. Wenn er beispielsweise aus Südamerika kam, könnte er durchaus einen deutschen, russischen oder italienischen Familiennamen haben.
    Aber zuerst wollte sie den Rundgang durch die Wohnung abschließen. Schon als sie die Kammer verließ, war sie schweißgebadet. Am Ende des Gangs stieß sie auf das Schlafzimmer. Ein Doppelbett, links ein Einbauschrank. Ein Plasmabildschirm in der Achse des Bettes. Eines war sicher: Féraud lebte hier. Ihr fiel auf, dass es an den Wänden und auf dem Nachttisch kein einziges persönliches Foto gab.
    Jeanne empfand widersprüchliche Gefühle. Einerseits freute sie sich über diese Entdeckung. Antoine Féraud hat keine Familie. Weder Frau noch Kinder. Andererseits erfüllte sie dieses Einsiedlerleben, dieses Sich-Vergraben in seiner Praxis mit Unbehagen. Féraud lebte wie ein Student. Ohne Komfort. Ohne Wärme. Ohne Großzügigkeit. Sich voll und ganz seinem Beruf widmend. Nicht gerade romantisch. Aber lebte sie anders?
    Sie warf einen Blick in die Schubladen. Unterhosen, Socken, Hemden – immer in dunklen Tönen. Ihre geringe Anzahl zeugte von seiner Abreise. Ein begehbarer Schrank mit Schiebetüren. Einige schwarze Anzüge. Eine echte Garderobe für Leichenbestatter. Ob er seine leichten, farbigen Klamotten mit nach Nicaragua genommen hatte?
    Jeanne ging weiter. Auf dem Boden neben dem Bett lagen Bücher. The Empty Fortress von Bruno Bettelheim. Der Zauberberg von Thomas Mann. Jewgeni Onegin von Puschkin. Sie blätterte sie durch, schüttelte sie. Auf der Suche nach einem Foto, das als Lesezeichen diente. Nichts. Ihr Blick fiel auf einen kleinen Schreibtisch, der zwischen Fenster und Plasma-Bildschirm eingeklemmt war. Kein Computer. Sie öffnete die kleine Schublade. Durchwühlte die Notizbücher, die Blätter, den ganzen Papierkram. Nichts. Féraud hatte sich mit seinen Geheimnissen aus dem Staub gemacht.
    Sie ging den Gang zurück, das schweißnasse T-Shirt klebte ihr am Leib. In der Küche hielt sie ihr Gesicht unters kalte Wasser. Dieser Raum hatte die gleiche Atmosphäre wie der Rest der Wohnung. Sauber, kalt, unpersönlich. Sie öffnete den Kühlschrank, er war leer. Ein absurder Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Vielleicht verbrachte Féraud die Werktage hier und besuchte jedes Wochenende seine Familie in einem prächtigen provenzalischen Landhaus? Nein. Dann hätte er Fotos davon in seiner Wohnung gehabt. Kinderzeichnungen, Briefe. Féraud war ein Kreuzritter der Psychiatrie. Ein Einzelgänger, der sich leidenschaftlich für das Labyrinth der menschlichen Seele, die Freudsche Revolution und den Mechanismus der Väter interessierte.
    Sie kehrte in die kleine Kammer zurück, stieg noch einmal auf den Stuhl und begann die Akten zu durchstöbern. Bald schon hatte sie es heraus: Sie legte die Lampe in eine günstige Achse, nahm einen Stoß Akten heraus, legte ihn auf ihren angewinkelten linken Arm, blätterte die erste Seite jeder Akte auf, um den Namen des Patienten in Erfahrung zu bringen. Innerhalb von zwei Stunden wählte sie nach dieser Methode fünf Akten aus, die dem Mann entsprechen konnten, den sie sich vorstellte. Wobei sie ein sehr grobes Suchraster anlegte.
    Carlos Vila, siebenundfünfzig.
    Reinaldo Reyes, fünfundsechzig.
    Jean-Pierre Vengas, neunundsechzig.
    Claudio García, sechsundsiebzig.
    Tomás Gutiérrez, einundsiebzig.
    Eine reiche Ausbeute? Sie glaubte es nicht, aber trotzdem würde sie jede Akte genau lesen. Sie betrachtete das letzte Regal, ganz unten. Ihr Nacken, ihre Schläfen und ihre Achseln klebten von Schweiß, vermischt mit dem aufgewirbelten Staub. Sie war von einer ekligen Schmutzschicht überzogen.
    Jeanne kniete sich nieder, um die letzte Reihe von Akten in Angriff zu nehmen, als ihr Herzschlag stockte.
    Jemand hatte an die Wohnungstür geklopft.
    Kein neutrales Klopfen, sondern ein ungestümes, stoßweises Hämmern. Wie Steine, die mit großer Kraft geschleudert wurden. Jeanne ließ ihre Taschenlampe fallen. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Der Mörder.
    Erneutes Pochen.
    Und schon das Bersten von Holz.
    Die Tür wurde aufgebrochen ...
    Jeanne lehnte sich in panischem Schrecken gegen die Regale.

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