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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Die Lampe aufheben, die Akten übereinanderschichten, einen anderen Ausgang finden. Sie bückte sich zu der Taschenlampe, rutschte auf einem Blatt aus und fiel auf das Papier. Der Sturz hatte eine heilsame Wirkung: Sie bekam sich wieder in die Gewalt. Sie griff nach der Taschenlampe und sammelte die verstreuten Akten ein. Das rasende Hämmern gegen die Tür hallte in der Wohnung wider. Jeanne erinnerte sich, dass sie nicht hinter sich abgeschlossen hatte. Ihr wurde bewusst, dass sie keine Waffe bei sich trug.
    Auf allen vieren sammelte sie weiterhin die Akten ein. Diese Schriftstücke waren plötzlich von unschätzbarem Wert. Ihre Beute. Ihr Schatz. Deswegen war sie hergekommen, und sie würde damit weggehen. Die Seiten raschelten um sie herum. Die Blätter entglitten ihr. Als sie die Blätter unter ihren Arm gesteckt hatte, zerriss ein neues Geräusch die Stille in der Wohnung.
    Ein Schrei.
    Ein Grunzen.
    So etwas hatte sie noch nie gehört. Eine tiefe, heisere Stimme, die einem in den Ohren wehtat. Eine Art akustische Ausschabung des Trommelfells. Jeanne hatte das Gefühl, dass ihr der Gaumen zerkratzt und der Rachen gehäutet wurde. Das Grunzen verwandelte sich in ein langes, moduliertes Gurren wie von einer Taube.
    Jeanne dachte an eine Pfeife aus gebranntem Ton, in die jemand sanft blies. Joachim, flüsterte sie. Durch diesen Schrei hindurch erahnte sie die metallische Stimme von der digitalen Aufzeichnung. Das »Wesen«, das aus dem Körper des Rechtsanwalts entsprungen war ... Es war erwacht ... Und es kam heute Abend zurück, um Antoine Féraud zu töten, so wie es am Vortag François Taine umgebracht hatte. Es würde keine Überlebenden geben.
    Sie stürzte auf den Flur. Warf einen Blick über ihre Schulter. Sie sah – oder glaubte zu sehen –, wie sich die Wohnungstür unter den Schlägen verformte. Sie lief ins Schlafzimmer, in die Küche, ins Bad, auf der Suche nach einem zweiten Ausgang. Warf einen flüchtigen Blick in alle Zimmer. Erspähte das Fenster im Bad, über der Wanne. Sie versuchte sich an die Lage der Zimmer im Verhältnis zur Straße zu erinnern. Vielleicht gab es einen Durchgang zum Hof ...
    Hastig drückte sie den Lichtschalter. Der Fensterrahmen hatte einen Treibriegelverschluss, aber keinen Griff. Sie hielt inne. Legte die Akten ab. Suchte ein Werkzeug.
    Ein berstendes Geräusch.
    Der Schrei, deutlicher, näher.
    Der Mörder schlug die Tür ein. Sein Gurren hallte von den Wänden des Gangs wider. Jeanne durchwühlte alle Schubladen. Seife, eine Feile, ein Kamm ... Das Pochen dauerte an, die Tür bebte in den Angeln. Eine Pinzette, ein Deodorant, Lippenbalsam ... Mist. Mist. Mist. Jeanne zitterte. Handtücher, Flakons, Sprays ...
    Wieder zerriss ein Schrei die Stille, gefolgt von einem Knistern wie von Knochensplittern. Die Tür gab nach. Der Mörder war da. RRRRRROOOOUUUUUUU!!!!! ... Sie fand eine Nagelschere, die einer Zange glich. Eilig packte sie den Stift des Treibriegelverschlusses mit der Zange und drehte. Nichts! RRRRROOOOUUUUUU!!!! Erneuter Versuch. Abermals daneben. Ihre Augen waren tränenverschleiert. Schließlich drehte sich der Stift. Das Fenster ging auf. Jeanne steckte den Kopf nach draußen. Entdeckte ein schmales Gesims, das der Fassade folgte. Unten befand sich der Innenhof. Sie stopfte die Akten unter ihr T-Shirt und stieg durch das Dachfenster.
    Als ihre Absätze den Vorsprung berührten, zischte es dicht hinter ihr:
    Todas las promesas de mi amor se irán contigo / Me olvidarás ...
    Jeanne trippelte das Gesims entlang, wobei sie über Dachrinnen hinwegstieg, bis sie die Fassade eines anderen Gebäudes erreichte, das im rechten Winkel zum ersten stand.
    Schon war das Säuseln im Hof zu hören:
    ... me olvidarás / Junto a la estacíon hoy lloraré igual que un niño / Porque te vas, porque te vas / Porque te vas, porque te vas ...
    Sie stapfte über das Gesims des zweiten Gebäudes, wobei sie es vermied, in den Abgrund zu ihren Füßen zu sehen. Ein offenes Fenster im Dämmerlicht. Ein Treppenhaus. Sie warf die Akten hinein. Die Unterlagen über Vila, Reyes und García verteilten sich auf den Stufen. Schon stieg sie in das Fenster hinein.
    Da warf sie noch einen raschen Blick hinter sich.
    Das Monster war ihr nicht nach draußen gefolgt.
    Es verharrte reglos, im Gegenlicht, eingerahmt vom Badezimmerfenster. Es zitterte am ganzen Körper. Als ob es trotz der Hitze vor Kälte schlotterte. Es war nur eine schwarze

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