Im Wald der stummen Schreie
Pariser Vorort.
»Das Departement Seine-Saint-Denis eröffnet viele Möglichkeiten«, meinte sie ironisch.
»Unter der Voraussetzung, dass man hierbleibt. Ich habe immer etwas für meine Region tun wollen. Aus diesem Grund habe ich diese Firma gegründet. Ich hätte in einer Forschungsabteilung vor mich hinvegetieren können, aber ich wollte allen zeigen, dass dieser nördliche Pariser Vorort nicht nur ein von Armut und Gewalt geprägtes Drecksloch ist. Ich weiß nicht, ob mir das gelungen ist. Bekannt ist diese Region doch heute vor allem wegen der gewalttätigen Ausschreitungen und der beiden armen Jungs, die sich in einem Umspannwerk versteckten und dabei tödliche Stromstöße abbekamen ...«
Bei ihrem ersten Zusammentreffen war ihr Bernard Pavois als ein kalter, unzugänglicher Buddha erschienen. Heute wirkte er leidenschaftlich, kämpferisch und hitzig. Ein heißblütiger Golem.
»Darf ich rauchen?«, fragte er. »Stört Sie der Qualm nicht?«
»Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an!«
»Das ist der Vorteil dieser Gegend«, schnaubte Pavois und zwinkerte ihr zu. »Man kann nicht tiefer fallen.«
Mit ruhiger Hand zündete er sich eine Zigarette an. Jeanne entdeckte bei ihm einen ungewöhnlichen Charme. Hinter der selbstbewussten, gelassenen Fassade spürte man eine echte Freundlichkeit, den Wunsch zu lieben und zu beschützen. Der dickleibige, kalte Mann mit der eckigen Brille und dem Pelikankropf war auch ein Teddybär. Ein Mann, der seine Lebensgefährtin glücklich machen konnte, für den aber vor ein paar Tagen alles zusammengebrochen war.
»Ich habe die Zeitungen gelesen«, sagte er. »Der Brand in der Rue Moncey. Ich habe Ihren Kollegen auf dem Foto wiedererkannt. Gibt es einen Zusammenhang mit dem Mord an Nelly?«
»François Taine – so hieß er – hatte etwas entdeckt, was für den Mörder gefährlich war. Alles spricht dafür, dass er beseitigt wurde.«
Pavois schwieg. Jeanne begriff, dass er nicht auf eine banale Weise sein Mitgefühl oder seine Bestürzung ausdrücken würde.
»Haben Sie den Fall übernommen?«, fragte er, nachdem er eine Rauchfahne ausgestoßen hatte.
»Um offen zu sein, nein. Ich hätte beim ersten Mal gar nicht hier sein dürfen.«
»Das war mir klar. War der Richter ein Freund von Ihnen?«
»Ein sehr teurer Freund. Ich werde nicht eher ruhen, bis ich seinen Mörder gefasst habe.«
Sie wanderten über eine weite Grasfläche. Verglichen mit dem perfekten Rasen in Garches, wirkten die Grünstreifen auf dem Gelände der Laboratoires Pavois geradezu kümmerlich. Halb vergilbte, halb kahle Flächen, die obendrein noch hie und da von Schlammpfützen gesprenkelt waren ...
»Was wollen Sie wissen?«
Jeanne war nicht gekommen, um den Zytogenetiker über Nelly Barjac oder über die möglichen Zusammenhänge zwischen Autismus und Genetik auszufragen – da wusste sie jetzt Bescheid. Blieb noch die Prähistorie.
»Ich interessiere mich für einen ganz bestimmten Punkt. Besteht ein Zusammenhang zwischen der Genetik und der Vorgeschichte?«
»Ich verstehe Ihre Frage nicht.«
»Hatten die Frühmenschen zum Beispiel einen anderen Karyotypus?«
»Das sollten Sie eher Paläoanthropologen fragen ... Ich kann Ihnen Namen nennen, wenn Sie wollen.«
»Aber was wissen Sie darüber?«
»Nicht viel. Ich kann Ihnen ein paar Informationen geben, aber lassen Sie uns reingehen. Man geht in dieser Bruthitze förmlich ein.«
Unterwegs wollte ihr Bernard Pavois – nicht ohne einen gewissen Stolz – unbedingt jedes Stockwerk, jeden Raum seines Labors zeigen. Wie beim ersten Mal war Jeanne im wahrsten Sinne des Wortes geblendet. Im Sonnenlicht sah es so aus, als bestünden die Laborräume aus Kristall. Scheiben, Labortische, Pipetten blitzten und funkelten. Sie kamen an sterilen Räumen vorbei. An Druckkammern, die vollkommen staubfrei waren, an Beobachtungsräumen, in denen – wohlgeordnet – mit Binokularen versehene Computer standen.
Pavois fuhr fort mit der Erklärung der verschiedenen Arbeitsschritte, die es ermöglichen, ein Karyogramm zu erstellen. Er blieb vor jedem Raum, an jedem Instrument stehen. Die Zentrifuge zur Isolierung von Zellen. Trockenschränke, in denen konstant eine Temperatur von siebenunddreißig Grad herrschte, für die Anzucht. Das Binokular für die Beobachtung der »Metaphase«, der Trennung der Chromosomen, dann ihre Anfärbung und das Ordnen. Anschließend speicherte man die Probe unter einer bestimmten Nummer im Computer ab – zehn Ziffern, die
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