Im Wald der stummen Schreie
auch das Datum enthielten. Dann wurde der Befund dem Auftraggeber – dem Gynäkologen, der Station oder dem Krankenhaus – mitgeteilt.
»Und die Prähistorie?«, wiederholte Jeanne.
»Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich da kein Fachmann bin.«
»Hatten die Frühmenschen einen anderen Karyotyp als der heutige Mensch?«
»Natürlich. Der Neandertaler hatte achtundvierzig Chromosomen, wie der Schimpanse, während der heutige Menschen sechsundvierzig hat.«
»Zu welchem Zeitpunkt der Evolution wurde die genetische Karte des modernen Menschen festgelegt?«
»Keine Ahnung. Und ich bin mir nicht sicher, ob die Experten diese Frage beantworten können. Mit den an Fossilien gewonnenen Proben lässt sich der Karyotyp nicht nachweisen. Dazu braucht man lebendes Material. Aber eines ist sicher: Unsere Evolution geht weiter. Unsere Chromosomen verändern sich unentwegt weiter.«
»Inwiefern?«
»Vor sehr langer Zeit waren das X- und Y-Chromosom unserer Art gleichgroß. Im Lauf der Jahrtausende wurde das Y-Chromosom immer kleiner. Heute ist es im Vergleich zum weiblichen X-Chromosom nur noch ein Zwerg.«
»Bedeutet dies, dass der Mann eines Tages aussterben wird?«
»Ja. Es wird auf der Erde keine Männer mehr geben.«
Jeanne versuchte sich eine nur von Amazonen bevölkerte Welt vorzustellen. Obwohl sie mit Männern eigentlich nur Ärger hatte, fand sie diese Aussicht nicht erbaulich.
»Und wann ist es so weit?«
»In zehn Millionen Jahren. Uns stehen also noch heftige Auseinandersetzungen bevor!«
Pavois brach unvermittelt in ein fast kindliches Lachen aus, das seinen Kropf hüpfen ließ. Doch plötzlich verdüsterte sich seine Miene. Offensichtlich dachte er an Nelly. Seine Frau, seine ermordete Geliebte. Jeanne schwieg mitfühlend. Wenn der Genetiker etwas auf dem Herzen hatte, würde er es sagen. Oder auch nicht.
»Kann ich mir das Büro von Nelly ansehen?«, fragte sie schließlich.
»Die Kripo hat es schon durchsucht.«
»Ich würde trotzdem gern einen Blick hineinwerfen.«
»Hier entlang, bitte.«
Sie gingen ein Stockwerk höher. Jeanne betrat ein geräumiges Arbeitszimmer mit großen Fenstern. Ein Schreibtisch mit schwarzer Oberfläche, perfekt aufgeräumt. Ein Schrank. Ablagefächer. Jeanne wunderte sich, dass die Polizisten hier nicht die übliche Unordnung hinterlassen hatten. Sie setzte sich hinter den Schreibtisch – Pavois war verschwunden – und versuchte sich in Nelly Barjac einzufühlen, während sie sich gleichzeitig in die Ermittler hineinversetzte, die das Büro bereits auf den Kopf gestellt hatten.
Jeanne betrachtete das Telefon. Sie hatten ihre Anrufe und ihre Nachrichten überprüft. Ihr Blick glitt zum Computer. Sie hatten auch ihre E-Mails gesichtet. Und nichts gefunden. Doch sie waren schließlich in der gleichen Lage wie Jeanne: Sie wussten nicht, wonach sie suchen sollten.
Jeanne verzichtete darauf, den Rechner anzuschalten. Sie zog die Schreibtischschubladen auf, fand darin Aufzeichnungen, die in einer Art Fremdsprache abgefasst waren, in die Ziffern, Schaubilder und Symbole eingestreut waren. Außerdem die Namen von Ländern und Regionen aus der ganzen Welt. Jeanne erinnerte sich wieder daran, was Nelly nach Feierabend machte: Sie führte vergleichende genetische Studien über die Völker Lateinamerikas durch, über die Unterschiede in ihrer DNA. Reischenbach hätte diese Studien Spezialisten vorlegen sollen. Aber mit welcher Fragestellung?
Jeanne setzte sich gerade hin und betrachtete die Schreibtischfläche. Nippesfiguren standen am Rand. Reiseandenken. Armbänder aus afrikanischen Muscheln. Wollgespinste aus Südamerika – Fragmente von Schultertüchern oder Teppichen. Winzige Holzfiguren zweifellos ozeanischer Herkunft. Dazu Büroklammern, Gummis und eine mit einem Logo versehene Kiste aus hellem Balsaholz, die bestimmt Kekse enthalten hatte. Jeanne öffnete sie und entdeckte einen Haufen Papiere. Rechnungen von Schreibwaren. Bekritzelte Post-it-Notizen. Jeanne wunderte sich, dass die Kripo diese Papiere nicht mitgenommen hatte, aber offenbar gaben sie nicht viel her.
Sie stöberte weiter. Versandscheine von DHL, UPS, Fedex. Einige waren noch unbeschriftet. Auf anderen stand die Anschrift der Absender. Nelly erhielt Sendungen aus allen Winkeln Lateinamerikas. Jeanne nahm an, dass diese Postsendungen mit ihren Forschungen zusammenhingen. Blut- oder Gewebeproben, die genetische Analysen erlaubten.
Eine dieser Sendungen erweckte ihre Aufmerksamkeit – sie kam aus
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