Im Wald der stummen Schreie
Managua, der Hauptstadt Nicaraguas. Der Absender hieß Eduardo Manzarena und arbeitete für die Firma Plasma Inc. Das Paket war am 31. Mai 2008 – fünf Tage vor dem Mord – von UPS zugestellt worden. Managua, die Stadt, in der François Taine am Sonntag eine geschützte Nummer angerufen hatte. Und dorthin war Antoine Féraud am Montagmorgen geflogen.
Jeanne steckte den Schein in die Tasche.
»Sind Sie fertig?«
Bernard Pavois stand in der Tür.
»Ich muss weiterarbeiten ... Ich will sagen: wirklich. In meinem Stockwerk.«
»Natürlich«, sagte sie und stand auf. »Ich gehe schon. Kein Problem.«
Der Hüne begleitete sie zum Aufzug. Als die Türen aufgingen, schlüpfte er mit ihr in die Kabine – er wollte seine Rolle als Gastgeber bis zum Schluss spielen. Sie erreichten das Erdgeschoss und durchquerten schweigend die weiße, klimatisierte Empfangshalle. Jeanne hätte sich gerne nach den Postsendungen erkundigt, die Nelly Barjac regelmäßig erhalten hatte, doch sie spürte instinktiv, dass es besser war, keine Fragen mehr zu stellen.
Vor der Eingangstür, in der drückenden nachmittäglichen Hitze, ergriff Bernard Pavois wieder das Wort:
»Ich habe gespürt, dass mein Verhalten beim letzten Mal Sie schockiert hat. Die Tatsache, dass ich keine Spur von Trauer zeigte.«
»Die Trauer muss sich nicht unbedingt in Tränen äußern.«
»Und Tränen können etwas anderes ausdrücken als Trauer.«
»Das Nirwana?«
Der Zytogenetiker steckte die Hände in die Taschen. Die halb geschlossenen Augen hinter seiner Hornbrille erinnerten an die unerschütterliche Weisheit eines Buddha.
»Als Richterin – ich weiß nicht, aber als Frau gefallen Sie mir.«
»Dann sagen Sie mir doch, was Sie auf dem Herzen haben.«
»Ich bin siebenundfünfzig Jahre alt«, sagte er und zündete sich eine weitere Zigarette an. »Nelly war achtundzwanzig. Ich habe zwei Söhne, die praktisch in ihrem Alter sind. Sie war hübsch, während ich nicht gerade ein Adonis bin. Trotzdem haben wir eine recht harmonische Beziehung geführt. Erstaunt Sie das?«
»Nein.«
»Sie haben Recht. Auch wenn uns vieles trennte, war Nelly, wie man so schön sagt, meine letzte Chance. Und ich glaube, dass ich sie glücklich gemacht habe. Wir hätten vielleicht sogar Kinder haben können. Auch wenn man in unserem Job nicht gerade erpicht darauf ist, sich fortzupflanzen.«
»Hatten Sie Angst vor einer Fehlbildung?«
»Schlichtweg eine Überdosis. Jemand, der bei Kellogg's arbeitet, isst zum Frühstück auch kein Müsli.«
»Der Vergleich hinkt ein wenig.«
»Gefällt Ihnen der Spruch ›Auf dem Klo isst man nicht‹ besser?«
Pavois lachte ein weiteres Mal über seinen eigenen Witz. Ein schallendes Gelächter. Jeanne fand ihren ersten Eindruck bestätigt. Der Mann hatte seine Gefühle perfekt im Griff. Als er über Nelly und seine Trauer sprach, hatte er gelächelt. Sein Geist hat eine Stufe erreicht, wo Kummer und Freude sich in Heiterkeit auflösen.
»Ich werde Ihnen etwas gestehen«, sagte er, seine Brille zurechtrückend. »Als letzten Donnerstag Nellys Leiche gefunden wurde, habe ich mir geschworen, den Mörder aufzustöbern. Ihn eigenhändig umzubringen.« Er streckte die Hände aus. »Glauben Sie mir, ich bin dazu bereit. Ich habe geglaubt, mein Karma wäre es, Nelly zu rächen. Und dann sind Sie in mein Büro gekommen.«
»Und?«
»Es ist Ihr Karma. Aus einem Grund, den ich nicht kenne, sind Sie dazu auserwählt, diesen Mistkerl aufzustöbern. Sie werden ihm auf den Fersen bleiben. Ihre Jagd kennt weder Grenzen noch Atempausen. Vielleicht wird sich dies sogar in einem anderen Leben abspielen. Aber Ihre Seele und die des Monsters sind dazu bestimmt, sich zu begegnen und miteinander zu kämpfen.«
»Ich hoffe, dass es mir noch in diesem Leben gelingen wird.«
Bernard Pavois schloss die Augen, ein träger Buddha im Schatten des Baumes der Erleuchtung.
»Da bin ich ganz unbesorgt.«
33
»Bist du mit den Telefonaten von Taine weitergekommen?«
»Darüber haben wir doch schon gesprochen.« »Wir haben über die geschützten Nummern gesprochen. Hast du die Typen identifiziert, die er in Nicaragua und Argentinien angerufen hat?«
»Bis jetzt nur den in Nicaragua.«
»Wie heißt er?«
»Eduardo Manzarena.«
Am Lenkrad ihres Wagens nestelte Jeanne den UPS-Lieferschein aus ihrer Tasche, den sie aus Nellys Büro hatte mitgehen lassen. Sie wusste bereits, dass er der Absender des Päckchens war. Kribbeln in den Adern. Am 31. Mai hatte Nelly
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