Im Westen geht die Sonne unter
Ihr Blick wanderte unstet hin und her, streifte den großen Spiegel im Flur, in dem sie das Bild des Fernsehers sehen konnte. Endlose Experten-Interviews und Breaking News zur Finanzkatastrophe. Stets die gleichen Bilder. Angewidert wandte sie sich ab.
Der Geschmack der Schokolade war schon fast vergessen, als sie endlich den Stöpsel zog, aufstand und den Frottemantel um ihren nassen Körper schlang. Vielleicht war es doch keine gute Idee, früher nach Hause zurückzukehren. Sie hätte sich besser in die Arbeit vergraben. Jetzt stand sie einsam und verlassen, wie eine Fremde, in ihrer Wohnung und wunderte sich, in diesem Vakuum überhaupt atmen zu können. Es gab Zeiten, da hasste sie ihr Singledasein, und jetzt war es wieder soweit. Sie begann sich ihre Haare zu trocknen, wenigstens eine mechanische Tätigkeit, die ablenkte. Das Fernsehprogramm wurde auch nicht besser. Die Bilder der Nachrichtenkanäle glichen sich wie ein Ei dem andern. Der Rest bestand aus Talkshows, die sie ohnehin noch nie interessiert hatten, debilen Spielchen, Serien und Filmen, die sie entweder schon ein halbes Dutzend Mal gesehen hatte oder nie sehen würde. »Alles Hühnerkacke«, fasste sie ihre Stimmung zusammen. Sie beschloss, dass die Zeit gekommen war, etwas gegen ihre Trübsal zu unternehmen. Sie setzte sich mit einem Glas Chardonnay aufs Sofa, tunkte den Zeigefinger hinein und leckte ihn langsam und gründlich ab. Dann griff sie zum Telefon und wählte Ryans Nummer.
»Weißt du, wie spät es ist? «, krächzte seine verschlafene Stimme zur Begrüßung.
»Nein – ist mir auch egal«, murmelte sie undeutlich. Es hörte sich an, als hätte sie schon mindestens zwei Gläser des kühlen Weißen getrunken.
»Alles in Ordnung? Ist etwas passiert?«
»Ja – nein. Alles bestens. Mir geht’s blendend. Können wir reden oder liegt deine Flamme neben dir und spitzt die Ohren?«
»Dir ist wirklich eine Laus über die Leber gekrochen, wie es scheint.«
»Und – hört sie zu?«
»Nein, sollte sie?«
Er war allein, wie sie. Irgendwie beruhigte sie das. Sie trank einen Schluck Wein und genoss den Augenblick.
»Hallo, bist du noch dran?«
»Ja – klar – entschuldige, dass ich so spät anrufe.«
»Das fällt dir erst jetzt ein?«
»Du hast dich nicht mehr gemeldet. Ich wollte wissen, ob bei dir alles in Ordnung ist. Ich meine ...«
Er unterbrach sie. Seine Stimme klang ungewöhnlich scharf. »Nach dem Flop im City Airport, meinst du? Alles bestens, mir geht’s blendend.«
Sie erschrak. Die Art, wie er ihre Worte wiederholte, gefiel ihr gar nicht. »Ich verstehe, wenn du sauer bist«, antwortete sie zerknirscht. »Es tut mir leid, Ryan. Ich hätte dich da nicht hineinziehen dürfen.«
»Auch diese Erkenntnis kommt reichlich spät«, meinte er ironisch.
Sie versuchte das Thema zu wechseln. »Hast du die SWIFT-Daten ausgewertet?«
Er lachte. »Die Wirklichkeit hat die Theorie inzwischen eingeholt. Wir befinden uns mitten in der Singularität. Das habt ihr sicher auch bei der NSA festgestellt.«
»Schade«, murmelte sie enttäuscht.
»Was willst du damit sagen?«
»Ich habe gehofft, du würdest weitere konkrete Hinweise auf die China Connection finden.«
»Interessiert euch das überhaupt noch? Der Zahlungsverkehr steht still. Wir befinden uns am Rand des totalen Zusammenbruchs des Finanzsystems, ist dir das klar?«
»Wir glauben, dass Li den Zusammenbruch des SWIFT-Netzes zu verantworten hat«, antwortete sie ruhig.
Es blieb eine Weile still in der Leitung, dann hauchte er tonlos: »Was war das eben? Was hast du gesagt?«
»Du hast schon richtig gehört. Ich dürfte dir das nicht sagen, aber Scheiß drauf. Li hat über die taiwanische Firma des unglücklichen Dr. Chen SWIFT mit präparierten Chips beliefert.« Die Verpflichtung zur Geheimhaltung kümmerte sie nicht mehr. Sie erzählte ihm alles, was sie über die Zusammenhänge wusste und vermutete, und plötzlich schien er sich brennend für Li zu interessieren.
»Li kommt mit seiner Entourage nach Zürich?«, fragte er ungläubig. »Wenn ihr so sicher seid, dass er Chen auf dem Gewissen hat, warum läuft der Gauner dann immer noch frei herum?«
»Wir brauchen Beweise, mein Lieber. Aber dazu müssten wir ihn erst zum Reden bringen. Wie es aussieht, kann er weiterhin unbehelligt seinen dunklen Geschäften nachgehen. Nicht einmal seinen Gorillas können wir das Geringste nachweisen. Der lokalen Polizei geht es auch nicht besser.«
»Das stinkt zum Himmel, weißt du
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