Im Westen geht die Sonne unter
das?«
»Ich hätte es nicht schöner formulieren können«, brummte sie und goss mehr Wein ins Glas. »Man müsste die Kerle verwanzen können. Eine Mücke müsste man sein und zuhören, was Li den ganzen Tag und in der Bank treibt. Leider gibt es nicht einmal bei uns eine solche Technologie.«
Wieder entstand eine längere Pause. Schließlich sagte er leise, wie zu sich selbst: »Vielleicht gibt es doch eine Lösung.«
»Was, wozu, Lösung wofür?«
»Eine Möglichkeit, ihn abzuhören. Ich habe da eine Idee.«
Sie lachte ihn aus. »Das ist nicht dein Ernst. Willst du mir ernsthaft einreden, es existiere eine Abhörmethode, von der die NSA nichts weiß?«
»Wart’s ab.«
»Und wo finde ich dieses Wunderding?«
»Gar nicht. Ich rufe morgen an, dann sehen wir weiter.«
»Gib mir einfach die Nummer, dann brauchst du dich nicht mehr darum zu kümmern.«
»Hättest du gern. Geht aber nicht. Wenn die Sache funktioniert, will ich dabei sein. Ich habe nämlich auch ein paar wichtige Fragen an den Herrn Li.«
Kapitel 12
Imperial College, London
Ryan ging unruhig auf und ab im gläsernen Atrium des Imperial College an der Exhibition Road. Der zugleich filigrane und pompöse Haupteingang, eine Ikone zeitgenössischer Architektur, sollte den Eintretenden Ehrfurcht einflößen, das moderne Gegenstück der Propyläen eines griechischen Tempels. Zu Recht, war er überzeugt. Das Imperial College war eine akademische Institution mit großer Tradition. Mehr als ein Dutzend Nobelpreisträger hatten hier gelehrt. Sir Alexander Fleming, Entdecker des Penicillins, hatte in diesen Mauern seine Forschung betrieben. Und Ryan Cole hatte immerhin zwei Semester lang diese Luft geatmet.
Er schaute nervös auf die Uhr. Sie waren schon zehn Minuten zu spät für ihre Verabredung, und Alex ließ immer noch auf sich warten. Die Straße glänzte vom starken Regen am frühen Morgen. Er hatte aufgehört, aber die düsteren Wolken waren geblieben. Es war einer jener Tage, die einfach nicht anbrechen wollten. Er zog das Telefon aus der Tasche, steckte es jedoch gleich wieder ein. Ein schwarzes Taxi hielt am Straßenrand. Alex stieg aus, erblickte ihn durch die Scheibe und eilte in die Halle.
»Entschuldige die Verspätung«, sagte sie etwas verlegen.
Sie gab ihm lächelnd die Hand. Heute trug sie einen dunkelblauen Blazer, der ihre schlanke Taille betonte, graue Hosen, die ihre Beine länger erscheinen ließen und Lackschuhe mit Absätzen, die genau zu Swinging London passten. Ganz clevere Geschäftsfrau oder smarte Anwältin. Der bekannte Duft ihres Parfums streifte seine Nase. Eine Lawine von Erinnerungen stürzte auf ihn ein, blockierte vorübergehend sein Sprachzentrum. Alles an dieser Frau verunsicherte ihn. Diese plötzliche Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Unwillkürlich betastete er seinen Ring. »Der Regen«, murmelte er unsicher. Er hatte schon wesentlich originellere Antworten gegeben.
Sie nickte. »Auch eure Autofahrer taugen nichts auf nassen Straßen. Aber willst du mir nicht endlich erklären, wozu wir hier sind?«
»Wir besuchen Dr. Russell. Emma Russell, um genau zu sein.«
»Emma, soso. Noch eine deiner Flammen?«
»Wart’s ab«, grinste er. »Und überlass mir das Reden.«
»Wie du meinst, Casanova.«
Die Flamme, wie Alex sie bezeichnete, war Assistenzprofessorin im Institut für Electrical & Electronic Engineering. Er kannte Emma Russell seit seiner Kindheit. Die Russells waren Nachbarn, und die ein paar Jahre ältere Emma hatte ihn so lange tyrannisiert, bis er die stärkeren Muskeln entwickelte. Von dem Tag an, als er das entdeckte, blieb er ihr nichts mehr schuldig. Trotzdem verbrachten sie manchen freien Nachmittag miteinander. Diese Hassliebe hielt bis heute an. Emma überraschte ihn mit einer herzhaften Umarmung. Dabei sagte sie mitfühlend:
»Ich habe gehört, was passiert ist. Das tut mir so leid. Wie geht’s Jessies Mutter?«
Alex warf ihm einen überraschten Blick zu. Er hatte ihr nichts von seinen Schwierigkeiten in Bristol und von der Brandstiftung in Weymouth erzählt, und er wollte nicht darüber reden. »Alles im Lot«, antwortete er schnell. »Sie haben sie aus dem Spital entlassen.«
»Hoffentlich erwischen sie die Schweine«, brummte Emma, während sie ihre Gäste in eine große Halle führte, die sich über zwei Stockwerke erstreckte. Eine Seite nahm eine riesige Fensterfront ein, durch die der Innenhof und der ›Blue Cube‹ der Universitätsleitung zu sehen
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