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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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Bob‹ oder, eher unwahrscheinlich, ›feet to Bob‹ zu lesen war. Auf jeden Fall bezeichnete es den Abstand von ihrer Bürotür zu Bobs Tür. Mit zwanzig Fuß waren sie und ihr allseits gefürchteter und bewunderter Chef nun also Nachbarn. Grund genug, ein wenig stolz zu sein. Und ein bisschen bereute sie, das Gefühl mit niemandem teilen zu können. Sie verscheuchte den Gedanken schnell wieder und begann, die wenigen Sachen einzuräumen. Sie musste sich nicht über Einsamkeit beklagen. Sie hatte es so gewollt. Im Allgemeinen lebte sie ganz gut damit.
    Zehn Minuten nach ihrem Einzug arbeitete sie am Bildschirm, als hätte sie nie anderswo gesessen. Beim Kontrollblick auf die im Hintergrund laufenden Nachrichtenfilter stutzte sie. Ein Fenster, das seit Jahren keine Aktivität mehr anzeigte, erwachte plötzlich zum Leben. Der rote Balken am oberen Rand deutete auf mindestens 90% Relevanz. Das Programm, das den unablässigen Strom der Nachrichten und Hinweise aus allen möglichen Quellen für dieses Fenster analysierte, hatte ihr etwas Wichtiges zu sagen. Es hatte einen Beitrag in der britischen Fachzeitschrift ›Journal of Computational Finance‹ entdeckt:
     
    Die Topologie von Regime-shifts
    Ein erweitertes Modell zur Prognose von Finanzblasen
     
    Nicht der verwirrende Titel des Artikels erregte ihre Aufmerksamkeit. Es war die kurze, hervorgehobene Passage aus der Zusammenfassung, die sie sofort ihre eigentliche Aufgabe vergessen ließ:
     
    Der breite theoretische Definitionsbereich des Modells wird eindrücklich demonstriert durch die ex post Analyse bekannter Preisblasen liquider Commodities, Aktien und illiquider Unternehmensanleihen aus den Jahren 2009 und 2010, sowie eines älteren Niveau-Übergangs des REE Neodym.
     
    Alex traute ihren Augen nicht. Sie hatte dieses Fenster sicher drei Jahre lang nicht mehr beachtet. Ihre hektischen ersten Monate in Crypto City waren von den Nachbeben der Katastrophe in der kalifornischen Mine geprägt. Der Aktionismus des DHS, FBI und der sonst kühlen Köpfe bei der NSA führte damals zu nichts. Einmal abgesehen davon, dass der Verdacht Richtung China noch immer wie ein übler Verwesungsgeruch in der Luft hing. Die Untersuchung verlief stillschweigend im Sand. Unbeachtet und bald vergessen schnüffelten nur ein paar Programmroboter permanent nach weiteren Informationen, die Hinweise auf jenes Ereignis enthielten. Und nun hatte einer Alarm geschlagen.
    Aufgeregt las sie die ganze Zusammenfassung und den Anfang des Berichts. Je weiter sie in den mathematischen Fachjargon eintauchte, desto weniger verstand sie. Bald kam der Punkt, wo sie denselben kurzen Satz dreimal gelesen hatte und noch immer nicht kapierte. Ernüchtert griff sie zum Pappbecher, der noch in der Transportkiste stand, führte ihn an den Mund und stieß ihn gleich wieder angewidert von sich. Kalter Kaffee machte die Sache auch nicht besser. Angesichts der vielen englischen Fremdwörter und Formeln im Fachartikel dieses Ryan Cole aus Bristol kam sie sich reichlich blöd vor. Nur soviel war klar: das Modell des Briten konnte den Zeitpunkt der Mountain Pass Katastrophe beklemmend genau vorhersagen. Leute, die dieses Papier verstehen würden, Mathematiker, Physiker, Quants, gab es genug in Fort Meade. Das Problem war nur, dass die alle andere Aufgaben hatten. Ohne Bobs Machtwort durfte sie keine Hilfe erwarten. Sie griff zum Hörer des grauen Telefons und drückte Bobs Kurzwahltaste. Den gefährlichen schwarzen Apparat daneben benutzte sie höchst selten, nur für harmlose externe Anrufe, wenn sie sich als Journalistin ausgab. Jeder bei der NSA wusste: schwarze Telefone waren nicht abhörsicher.
    Er antwortete augenblicklich: »Alex, was gibt’s?«
    »Hast du fünf Minuten?«
    »Nein, wozu?«
    »Mountain Pass. Ein neuer Lead.«
    Es blieb eine Weile still in der Leitung. Eine lange Zeit, für Bobs Verhältnisse. Dann sagte er leise, als fürchtete er, belauscht zu werden: »Komm rüber.«
    Sie druckte hastig die paar Seiten aus, die sie zu lesen versucht hatte und eilte damit ins Büro nebenan.
    »Ich hoffte, nie mehr etwas von diesem verfluchten Dreckloch zu hören«, schimpfte Bob zur Begrüßung. »Ein Lead?«
    »Ja – nicht direkt. Aber ich denke, es könnte sich zu einem soliden Hinweis auf die Verantwortlichen entwickeln.«
    Seine Blicke durchbohrten sie wie glühende Spieße. »Sei froh, dass ich dich besser kenne, sonst ...« Er ließ die Alternative offen, forderte sie mit dem Kinn auf, sich zu

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