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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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kurz allein lassen. Dringende Geschäfte.«
    Damit erhob er sich und ging mit der Frau vor die Tür. Er hielt es nicht für nötig, sie ganz zu schließen. Sie hörte die beiden aufgeregt in ihrer Muttersprache diskutieren und spitzte die Ohren. Um besser zu hören, stand sie auf, ging zum Fenster nahe der Tür, tat so, als wollte sie noch einmal die Aussicht genießen und lauschte. Sie stand neben einem runden Tisch, dessen kostbare Ausstattung sie vorher nicht bemerkt hatte. Die Tischplatte war ein einziges kompliziertes Elfenbeinmosaik, eingefasst in einen goldenen Rahmen. Die Ohren angestrengt auf den Türspalt gerichtet, bemerkte sie erst auf den zweiten Blick, was ihr das Kunstwerk sagen wollte. Es war eine sonderbar verzerrte, stilisierte Weltkarte mit chinesischen Schriftzeichen unterschiedlicher Größe. Elektrisiert zog sie das Handy aus ihrer Tasche. Sie blickte auf die lange vergeblich gesuchte Darstellung des Firmennetzwerks von ›Galaxy Boom Industries‹. Nach zwei Schnappschüssen mit der hochauflösenden Kamera ließ sie das Telefon wieder verschwinden. Umso mehr konzentrierte sie sich auf das Gespräch an der Tür.
    »Sie sind hundertprozentig sicher, dass diese Information stimmt?«, fragte Li in schnellem Kantonesisch.
    Mei Tan antwortete so leise, dass sie nur Stichworte verstand. Dem Sinn nach sagte sie: »Unsere Quelle in Peking ist sehr zuverlässig. Es gibt keinen Grund, an ihren Aussagen zu zweifeln.«
    »Die Amerikanerin ist also eine Schwindlerin. Sie will mich aushorchen. Wer schickt sie?«
    »Wir wissen es nicht. Aber sie ist nicht von der Zeitung.«
    Es entstand eine kurze Pause. Der kurze Dialog ließ das Blut in Alex’ Adern gefrieren. Wie konnte ihre Tarnung auffliegen? Sie hatte keine Zeit, sich weiter darüber zu wundern. Panik ergriff sie, als sie Lis deutliche Antwort hörte:
    »Sie wird es uns erzählen. Sie wird das Haus nicht verlassen, bis wir alles wissen.«
    Sie hatte gerade noch Zeit, eine harmlose Position vor dem Fenster einzunehmen, bevor Li den Raum wieder betrat.
    »Sie bewundern die Aussicht«, stellte er mit dem gleichen unverbindlichen Lächeln fest, mit dem er sie begrüßt hatte.
    Alex kämpfte gegen Angst und Hoffnungslosigkeit. Sie war gefangen in diesem goldenen Turm. Ihr Puls raste. Ihr wurde übel beim Gedanken daran, was Lis Söldner und diese Schlange Mei Tan mit ihr anstellen würden, um die Wahrheit aus ihr herauszuprügeln. Es kostete sie schier übermenschliche Anstrengungen, ihr Mienenspiel zu kontrollieren und mit einigermaßen fester Stimme zu antworten: »Traumhaft, einfach traumhaft, Mr. Li.« Beim Klang der eigenen Stimme begann ihr Verstand wieder zu arbeiten. Es war höchste Zeit für einen ungeplanten Abgang. Die Erfolgsaussichten waren gering, aber sie musste den Versuch wagen. Sie würde den Horror einer solchen Befragung nicht überleben. »Verzeihung, Mr. Li.«, sagte sie und versuchte, ein verlegenes Lächeln aufzusetzen. »Ich müsste mich kurz entschuldigen. Der Tee, wissen Sie.«
    Er hielt galant die Tür auf und zeigte ihr den Weg zu den Toiletten. Der Mann war ein erstklassiger Schauspieler. Sie atmete auf, als sie allein im Korridor stand. Lis Schlange war nirgends zu sehen. Alex öffnete die Toilettentür, schloss sie gleich wieder laut genug, dass er es hören musste, wenn er lauschte, und schlich vorsichtig zum Ausgang, der zu den Aufzügen führte. Ein kleines bisschen Zuversicht kehrte zurück, als sie Lis Operationszentrum auf der 28. Etage unbemerkt verließ. Kaum schloss sich die Tür zum Treppenhaus hinter ihr, gaben ihre Knie nach. Sie musste sich am Geländer festklammern, um nicht hinunterzustürzen. Durchatmen, positiv denken, ruhig bleiben! Die vor Jahren eingeübten Verhaltensregeln klangen wie lähmender Hohn in ihrem Kopf. Sie holte tief Atem, sprang wie vom Leibhaftigen gehetzt die Treppe hinunter. Zwei Stockwerke tiefer wagte sie einen Blick in die Galerie mit den Aufzügen. Sie schätze ihre Chance zu entkommen besser ein, wenn sie nicht zu lange im Treppenhaus blieb. Eine kleine Gruppe Männer in dunkler Geschäftskleidung betrat einen der Aufzüge. Sie trugen gut sichtbare Badges an der Brusttasche. Besucher, die das Haus verlassen wollten, hoffte sie. Die Tür begann sich zu schließen. In wenigen großen Sätzen war sie beim Lift und zwängte sich in letzter Minute hinein.
    »Dui-bu-qi« – »Entschuldigung«, keuchte sie atemlos in der Landessprache.
    Die Herren traten freundlich lächelnd zur Seite. Sie

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