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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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Chen, ich freue mich, Sie wiederzusehen«, rief Li ihm zu, als sie den Speisesaal mit der festlich gedeckten Tafel betraten. Freudestrahlend kam er auf ihn zu und begrüßte ihn stürmisch wie einen lange vermissten Freund.
    Genau das meinte ich, dachte Danny bitter, bemüht, eine hoch erfreute Miene aufzusetzen und den Gruß würdig zu erwidern. Dass der allmächtige Li ihn als Ersten grüsste, konnte kein Zufall sein. Die Ehre hätte dem viel älteren Eric gebührt, auch wenn ihn Li nicht persönlich kannte. Der offensichtliche Protokollbruch verunsicherte ihn zusätzlich. Er war auf der Hut. Li reichte seinen zwei Ehrengästen den Aperitif. Spritziger ›Taittinger‹ mit eisgekühltem Pflaumenwein, wie er dienstfertig bemerkte. Der Vizepräsident und sein Symbiont durften sich selbst bedienen.
    »Meine Herren, ich habe Sie zu dieser kleinen Feier eingeladen, um den Abschluss eines großen Projekts zu feiern«, sagte Li mit erhobenem Glas. »Ich möchte Ihnen für diese Arbeit danken. Sie und wir alle können stolz darauf sein, diesen außerordentlich wichtigen und komplexen Auftrag fristgerecht ausgeführt zu haben.« Sein Gesicht begann verschmitzt zu leuchten, als freute er sich wie ein Spitzbube über den Scherz, der erst noch folgen sollte. »Ich stamme vom Festland«, fuhr er fort, »und Sie wissen, dass ich ein glühender Patriot bin. Aber ich muss es doch neidlos eingestehen: auf ›Made in Taiwan‹ kann man sich hundertprozentig verlassen.«
    Die Gäste kicherten höflich mit. Immerhin hatte Li etwas ausgesprochen, was den Leuten aus der Volksrepublik sonst nicht leicht über die Lippen kam. Die Bemerkung war durchaus geeignet, Dannys Sympathie für ihn ein wenig zu steigern. Nicht lange. Als Li sich am runden Tisch gegenüber dem Eingang auf den Stuhl des Gastgebers setzte und ihn aufforderte, zu seiner Rechten Platz zu nehmen, hatte er den Funken Zuneigung wieder verspielt. Es gehörte sich einfach nicht, den Ehrenplatz nicht dem älteren Gast zu überlassen. Eric musste es als Ohrfeige empfinden, doch sein Gesicht blieb freundlich wie in Wachs gegossen. Der Vizepräsident spielte mit dem Finanzchef zu seiner Rechten den zweiten Gastgeber am andern Ende des Tischs. Danny versuchte, das Unbehagen zu verdrängen, indem er sich auf die zahlreichen Schälchen und Teller auf der Tafel konzentrierte, deren Düfte in seiner Nase ein harmonisches Konzert veranstalteten. Essen lenkte ab, und er war hungrig. Er schöpfte sich Reis. Höflich nahm er auch einige Bissen von den Speisen, die Li seinen Gästen anbot. Vor allem aber hoffte er, die andern würden ihm den Löwenanteil der Tianbula übriglassen. Die im Teig frittierte Fischpaste liebte er mehr als jede zarte Ente, vor allem wenn sie wie hier zusammen mit wunderbar stinkendem Tofu, kleinen Tintenfischen und Gemüse serviert wurde. Nicht nur die Architektur des Klubs war exklusiv, auch die Küche gehörte zum Besten, was er je genossen hatte. Während er in die wohlschmeckenden Abgründe tauchte, stellte er plötzlich verblüfft fest, dass sie offenbar die einzigen Gäste des Hauses waren. Die Firma oder Li scheuten keine Kosten für dieses Festmahl. Vielleicht hatten sie auch die Küchenmannschaft und das Personal eingeflogen. Er begann sich zu wundern, was er davon halten sollte.
    Li riss ihn plötzlich aus seinen Gedanken mit der unerwarteten Frage: »Nun, Dr. Chen, was werden Sie tun, nachdem Ihr großes Projekt beendet ist?«
    »Ich – äh – es ist ja noch nicht ganz soweit«, stammelte er.
    »Ah, stimmt, Sie haben recht. Wir haben noch eine wichtige Reise vor uns, aber danach ...?«
    Danny warf seinen Chefs am andern Ende des Tisches einen hilfesuchenden Blick zu. Er hatte sich Lis Frage noch nicht gestellt. Warum auch? Es gab genügend andere interessante Aufgaben in der Firma, in Hsinchu oder wo auch immer. Da niemand für ihn antwortete, musste er blitzschnell etwas Intelligentes erfinden. »Radfahren«, sagte er säuerlich lächelnd. »Ich werde mich auf den Sattel schwingen und alles vergessen.«
    Li fand seine Antwort zum Brüllen komisch. Er hielt sich den Bauch vor Lachen und schnappte nach Luft wie ein Fisch beim Mücken fangen. »Ausgezeichnet – der war gut«, keuchte er. Sein Kopf fuhr herum zu Eric. »Und was werden Sie tun, um zu vergessen, Dr. Yang?«
    »Ich glaube, ich werde diese Arbeit nie vergessen«, entgegnete Eric mit einer angedeuteten Verbeugung.
    Li schaute ihn prüfend an, dann nickte er. »Wie gesagt, Sie dürfen stolz

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