Im Westen geht die Sonne unter
Gastgeber. Vielleicht war er es auch. Sie kannte den Financier nicht, versuchte sich ein unvoreingenommenes Bild von ihm zu machen. Deshalb war sie hergekommen. Und um möglichst viele Informationen über seine Geschäfte zu sammeln. Das Firmennetz der ›Galaxy Boom Industries‹ war so undurchsichtig wie Li selbst oder seine unheimliche Mei Tan. Der Konzern veröffentlichte keine Bilanzen. Es gab überhaupt keine Publikationen über die Geschäftstätigkeit. Aus dem spärlichen Werbematerial erfuhr man nichts über die Firmenstruktur. Sie hatte bei ihrer Recherche nicht einmal herausfinden können, wie viele Leute Li ungefähr beschäftigte. Allgemein bekannt war einzig, dass der Konzern seit elf Jahren existierte und bereits eine tragende Rolle spielte bei der Finanzierung vieler gigantischer Immobilienprojekte in Macao und Hongkong. Woher kam das Geld? Wer waren die Investoren? Und vor allem: was bezweckte Li mit den massiven Goldkäufen? Alles Fragen, die sie natürlich nicht offen stellen durfte, auf die sie ohnehin keine Antwort erhielte. Sie hatte den Termin nur bekommen, nachdem das vermeintliche ›Wall Street Journal‹ Li schriftlich garantiert hatte, weder seinen Namen noch seine Firma ausdrücklich zu erwähnen bei einer allfälligen Veröffentlichung. Er war nur bereit, als Experte seine Meinung zur aktuellen und zu erwartenden Lage auf den Finanzmärkten zu äußern. Trotzdem hoffte sie, konkrete Hinweise auf seine Geschäftsbeziehungen, insbesondere nach Europa, zu erhalten. Es war wichtig, jedes seiner Worte genau zu registrieren, den Tonfall seiner scheinbar unwichtigen Nebensätze zu analysieren, herauszuarbeiten, was er verschwieg. Ihr jahrelanges Training als echte Journalistin beim ›Journal‹ musste sich jetzt in den nächsten dreißig Minuten auszahlen.
»Nun, Miss Oxley, was kann ich für Sie tun?«, fragte Li, nachdem er an seinem Tee genippt hatte.
»Sie führen einen äußerst erfolgreichen Investmentkonzern, Mr. Li. Was unsere Leser sicher brennend interessiert: wie reagieren Sie auf den dramatischen Zerfall von Dollar, Euro und Pfund?«
»Ah – wir sind sehr vorsichtig«, schmunzelte er. »Haben früh gesehen, dass wir Wert erhalten müssen. Sie wissen, wir investieren in Immobilien in China. Das sind noch immer sichere Werte.« Sein Lächeln wurde breiter. »Keine Währungsprobleme«, ergänzte er und schien sich über seine Bemerkung zu freuen wie ein Kind über die Zuckerwatte auf dem Rummelplatz.
»Das verstehe ich«, nickte sie, »aber Sie sind doch weltweit tätig?«
Er musterte sie mit einem bohrenden Blick, bevor er zögernd zugab: »Ah – das stimmt schon, aber der Yuan liegt uns natürlich sehr am Herzen.«
»Wenn ›Galaxy Boom Industries‹ ein Unternehmen in, sagen wir, London wäre, was würden Sie als Finanzchef tun?«
Die Antwort kam blitzschnell, als hätte er darauf gewartet, sie endlich loszuwerden. »Gold, Commodities, Emerging Markets, keine Finanztitel.« Zu ihrem Erstaunen lehnte er entspannt zurück und begann, wie aus dem Lehrbuch über die Investitionsstrategie in Zeiten des schwachen Dollars und steigender Inflation zu sprechen. Dabei vergaß er auch nicht, die verfehlte Reflationspolitik des ›Fed‹ zu erwähnen. Kein Lehrbuch. Er rezitierte einen Zeitungsartikel. Sie hatte den Kommentar in der ›Financial Times‹ auch gelesen. Sie tat, als hörte sie interessiert zu und stellte ihm schließlich die Frage, auf deren Antwort nicht nur sie wartete:
»Gold als sicherer Hafen. Fürchten Sie nicht, dass der Markt sich überhitzt, die Goldblase platzt und der Wert wieder auf ein Niveau auf tausend Dollar pro Unze oder noch tiefer sinkt?«
Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Er beugte sich vor und fragte in fast feierlichem Ton: »Haben Sie schon einmal einen Barren Feingold von 400 Unzen in den Händen gehalten?«
Verblüfft schüttelte sie den Kopf.
Er seufzte schwer, lehnte sich wieder zurück und sagte: »Dieser Wert bleibt.«
Die Aussage war absolut, endgültig. Er würde nicht darüber diskutieren. Sie setzte zur nächsten Frage an. Ein aufdringlicher Summton unterbrach sie. Li griff in seine Anzugtasche und holte eine Art Pager heraus. Mit undurchdringlicher Miene las er die Kurznachricht. Dann drückte er auf eine Taste. Die Tür öffnete sich. Mei Tan trat ein, verbeugte sich kurz und flüsterte ihrem Chef etwas ins Ohr. Li setzte sein Lächeln wieder auf.
»Es tut mir leid, Miss Oxley«, entschuldigte er sich. »Ich muss Sie
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