Im Westen geht die Sonne unter
anrufst.«
Er fühlte durch das Telefon, dass es ihr nicht gut ging. Er hätte gern darüber gesprochen, aber die Erinnerung an Newton’s Cove hinderte ihn daran. So beschränkte er sich auf die unverfängliche Nachricht. »Es gibt Neuigkeiten«, sagte er nüchtern.
Sie reagierte nicht sofort, dann antwortete sie vorsichtig: »Ich höre?«
»Beunruhigende Neuigkeiten«, betonte er. »Ich werde, ehrlich gesagt, nicht schlau daraus, aber bei der katastrophalen Lage auf den Finanzmärkten dachte ich, ihr solltet es wissen.« Ohne seine Quelle preiszugeben, berichtete er von der Swiss Connection, die sich nun zu einer China Connection ausweitete. Sie hörte ohne Unterbrechung zu. Ihr Kommentar am Ende aber verstörte ihn zutiefst.
»Danke, du hast gerade dein Modell glänzend bestätigt«, sagte sie erfreut. »Die Software hat uns einen Namen geliefert, und er passt genau auf deine Geschichte. Mehr darf ich nicht sagen. Nicht über diese Leitung, verstehst du?«
Natürlich begriff er das. Trotzdem wusste er nicht, was er antworten sollte. Nach einer Weile fügte sie leise hinzu:
»War eine gute Zeit, als du hier warst. Ich – wir vermissen dich.«
Der neue Ring an seinem Finger konnte plötzlich sprechen. »Leg auf, Verräter«, zischte er böse.
Macao, Volksrepublik China
Ich bin vielleicht eine dumme Kuh. Die Erkenntnis wollte Alex nicht mehr aus dem Kopf und begann allmählich, an ihrer Selbstsicherheit zu nagen. »Ich vermisse dich« sagt man nicht zu einem Mann, den man nackt gesehen hat, außer man meint es. Das war das Problem. Sie konnte sich lange einreden, den Satz nicht so gesagt zu haben. Geklungen hatte er genau so.
Das Taxi hielt vor dem goldenen ›Galaxy Tower‹ in der Avenida Commercial de Macau, unmittelbar vor der Brücke nach Taipa. Sie stieg aus, schlug die Tür zu und hoffte, die störenden Gedanken an Ryan würden mit dem Taxi entschwinden. Sie brauchte jetzt all ihre Kräfte, sich auf die Begegnung mit dem Menschen zu konzentrieren, der im Epizentrum des Erdbebens am Finanzmarkt stand. Stehen musste, daran zweifelte sie nach Ryans Anruf keinen Augenblick mehr. Als Empfangshalle diente ein grandioses Atrium mit Springbrunnen, aus denen goldenes Wasser sprudelte. Die Kathedrale erstreckte sich über mindestens zehn Stockwerke. Gläserne Lifte glitten wie magische Kristalle geräuschlos die spiegelglatten Wände hinauf und hinunter.
»Mr. Li bittet Sie um einen Augenblick Geduld, Miss Oxley«, sagte die Dame am Empfang mit einer ehrerbietigen Verbeugung in nahezu akzentfreiem Englisch. »Es wird Sie gleich jemand abholen.«
Der lange schwarze Zopf fiel ihr als Erstes auf bei der Frau, die sich als Mei Tan vorstellte. Ihr schlanker Körper wirkte keineswegs zerbrechlich, eher wie eine gespannte Stahlfeder. Freundlich lächelnd bat sie Alex in einen der Kristallaufzüge. Das Gesicht der Frau passte nicht zur Atmosphäre, die sie verbreitete. Ihre Augen schienen jede Regung des Gastes wahrzunehmen, als sei sie auf der Hut vor einem plötzlichen Angriff. Oder als würde sie im nächsten Augenblick zubeißen. Alex atmete insgeheim auf, als sie den Lift verließen und das Reich des mysteriösen Herrn Li betraten.
Er empfing sie mit ausgebreiteten Armen wie eine verlorene Tochter, begrüßte sie scheinbar hoch erfreut und führte sie in ein Sitzungszimmer, das sich gut als Präsidentensuite in einem Luxushotel geeignet hätte. Mit dem Unterschied allerdings, dass die Mingvasen hier garantiert echt waren. Sie konnte nicht anders, als einen Moment vor der Fensterfront stehenzubleiben. Als würde sie fliegen schweifte ihr Blick über die Stadt zu ihren Füssen. Atemberaubend die Sicht auf das Südchinesische Meer mit der Insel Taipa im Hintergrund.
»Großartige Wohnlage«, bemerkte sie schmunzelnd, worauf er kichernd antwortete:
»Ah – scherzen. Gut, aber leider muss ich hier arbeiten. Wenig Zeit, um Aussicht zu genießen.«
Sein English hörte sich etwas unbeholfen an, war aber gut verständlich. Sie hätten sich fließender auf Mandarin oder Kantonesisch unterhalten können, aber es gehörte zu ihrer Tarnung, dass sie nur des Englischen mächtig war. Sie überreichte ihm ihre Visitenkarte, eine der Karten, mit denen sie schon Ryan getäuscht hatte. Sie setzten sich auf eine Polstergruppe. Ein Dienstmädchen erschien, stellte heiße und kalte Getränke und Süßigkeiten auf den Klubtisch und entfernte sich ebenso geräuschlos, wie es gekommen war. Li spielte den perfekten
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