Im Westen geht die Sonne unter
wissen sie, wer sie im Visier hat.«
»Ryan ist nicht ›mein Brit‹«, wehrte sie sich. »Wer hat uns denn auf die Spur dieses Li gebracht? Und wahrscheinlich wissen die schon längst, dass sie die NSA im Nacken haben. Warum ist meine Tarnung in Macao aufgeflogen? Wer hat denn diese kleine Panne zu verantworten? Budgetkürzungen?«
Sie war jetzt ebenso wütend wie ihr Boss. Sie wusste, dass sie mit Macao einen empfindlichen Nerv getroffen hatte, und sie verspürte nicht wenig Lust, weiter in dieser offenen Wunde zu wühlen. Welch wohltuendes Gefühl, andere leiden zu sehen, wenn man selber litt. Nur löste das keines ihrer Probleme, und das steigerte ihren Zorn so sehr, dass sie etwas tat, was bisher noch niemand gewagt hatte. Sie legte einfach auf. Karriere im Eimer, sagte das dünne Stimmchen in ihrem Kopf, aber sie scherte sich nicht darum. Nur Ryan zählte jetzt. Sie musste Ryan schützen. Er durfte nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Der sture Bock verstand gar nicht, in welcher Gefahr er sich befand.
Sie versuchte ihn auf allen Kanälen zu erreichen, doch er reagierte weder auf ihre Anrufe, noch auf Mails. Egal ob sie ihre Nummer unterdrückte oder nicht: Mr. Ryan Cole war nicht zu sprechen.
Kapitel 9
Bristol, UK
Ryan stutzte. Seine Wohnungstür war nicht abgeschlossen. Der Schock vom City Airport saß ihm wohl doch tiefer als angenommen in den Knochen. Er wohnte nicht in einer Gegend, wo man die Türen zweimal verriegelte und mit Eisenketten sicherte. Trotzdem erinnerte er sich nicht, jemals nach Hause gekommen zu sein, ohne den Schlüssel im Schloss zu drehen. Er zog die Schuhe aus, warf die Aktentasche aufs Sofa und ging wie üblich zuerst in die Küche, um Tee aufzusetzen. Routine, eingespielte Verrichtungen, die auch ohne Großhirn funktionierten. Aber etwas stimmte nicht. Etwas Fremdes war in der Wohnung. Er wusste nicht was, nur dass es da war. Er griff in die Schublade unter der Anrichte, zog ein spitzes Messer heraus und schlich zurück in den Flur. Bereit, sofort zuzustechen, öffnete er die Tür zur Toilette. Dann stieß er die Schlafzimmertür auf, die wie gewohnt einen Spalt offen stand. Alles hatte seine Ordnung. Zumindest was er unter Ordnung verstand. »Du leidest an Verfolgungswahn«, sagte er zu sich selbst, während er mit einem schnellen Ruck den Kleiderkasten öffnete. Kopfschüttelnd schloss er ihn wieder. Sollte er unters Bett schauen? Lächerlich, doch er tat es trotzdem. Blieb nur noch das Wohnzimmer, das er bereits betreten hatte. Die Tasche lag da wie vorher. Die Fenster zeigten keine Einbruchspuren. Seine Wohnung sah nicht anders aus als sonst. Auch der gemütliche Mief des alten Hauses und der Möbel aus dem Gebrauchtwarenladen roch nicht anders als jeden Abend. Nur das unheimliche Gefühl blieb.
Der Wasserkessel pfiff. Er zuckte unwillkürlich zusammen. »Das ist krank!«, ärgerte er sich laut. In der Küche schaltete er die Herdplatte ab und goss das siedende Wasser über den Tee. Der belebende, bittere Duft des Bergamotte-Öls stieg ihm in die Nase. Was habe ich übersehen?, fragte er sich ärgerlich, als er mit der Tasse ins Wohnzimmer zurückkehrte. Da sah er sie. Die Zeitung lag auf dem Couchtisch und gehörte da nicht hin. Diese Zeitung gehörte überhaupt nicht in seine Wohnung. Mit einem leisen Fluch setzte er die Tasse ab und betrachtete das fremde Blatt wie ein Ding von einem andern Stern. Es war ein Boulevardblatt. Mit den schreienden roten Balken und riesigen schwarzen Lettern erschien es ihm wie die kleine Schwester der ›Sun‹. Aber es waren deutsche Wörter. Die Zeitung stammte aus der Schweiz. Er brauchte nicht viel von der Sprache zu verstehen, um zu begreifen, was der mit rotem Filzstift fett eingerahmte Leitartikel bedeutete. Das große Bild einer älteren Frau, die ganz entsetzt in ein leeren Zugabteil zeigte, war überschrieben mit:
MORD IM INTERCITY!
HIER HABE ICH DEN TOTEN GEFUNDEN!
Ein kleineres Portrait bedeckte eine Ecke des Fotos: das verschwommene Gesicht des Opfers. Ein Mann, der trotz des schwarzen Balkens über den Augen sofort als Asiate zu erkennen war. Der Text darunter bestätigte, was Ryan sofort begriffen hatte. Ein Geschäftsmann aus Taiwan war im Intercity-Schnellzug von Zürich nach St. Gallen ermordet aufgefunden worden. Genickbruch. Der Rest bestand wohl aus der ausführlichen Geschichte der Frau und einem Zeugenaufruf.
Seine Nackenhaare sträubten sich. Lange wagte er nicht, das gespenstische Blatt
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