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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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würde, diese alles entscheidende Frage würde wohl keine Berechnung jemals befriedigend beantworten. Immerhin hatte ihm seine Theorie vorausgesagt, dass der finanzielle Tsunami mit hoher Wahrscheinlichkeit in diesem Monat eintreffen musste.
    Ein Blick auf die Aktienkurse hätte jeden Ökonomen erstaunt. Der wichtigste Index ›FTSE 100‹, der ›Footsie‹, reagierte kaum auf den katastrophalen Verfall des Pfunds. Die gängige Theorie und alle bisherigen Erfahrungen gingen davon aus, dass die Aktienkurse tendenziell steigen müssten, wenn die entsprechende Währung Schwäche zeigte. Nichts weiter als einleuchtend unter normalen Umständen. Aber heute war kein Tag wie jeder andere. Auch das las er aus den Prognosen seines Modells. Inmitten des Handelsgewitters, das den Raum in ein Tollhaus verwandelte, die Luft ionisierte, dass sie förmlich zu knistern schien, beobachtete er die Aktienpreise der Sektoren und Länder, die ihn besonders interessierten. Auch eine Stunde nach dem Ausbruch der Krise bewegten sich die einheimischen Aktien ungefähr auf konstantem Niveau, obwohl das Pfund weiter verlor. Es war, als würden die realen Werte hinter den Aktien, die Maschinen, Gebäude, Produkte der Firmen, ebenso schnell wie die Währung einbrechen. Eine absurde Situation. Immer mehr Investoren wandten sich von den traditionellen Titeln ab, deren Risiken sie nicht mehr einschätzen oder tragen konnten. Und das Geld suchte sich offensichtlich neue Wege in Märkten, deren Dynamik mit Sicherheit noch weniger Leute wirklich verstanden. Die Bestätigung flackerte laufend über seine Bildschirme. Wie erwartet bewegten sich die Preise für Edelmetall, Gold, Silber, Platin und Rohstoffe aus dem Energiesektor, Erdöl, Gas, Uran nur noch nach oben. Und natürlich legten auch die Seltenen Erden, die im Hightech-Zeitalter immer wichtiger wurden, nochmals zu, obwohl es dank Chinas de facto Exportverbot kaum mehr einen freien Handel gab.
    »Es ist die Hölle«, keuchte Greg heiser, als er mit der kalten Zigarette im Mundwinkel wieder an sein Pult trat. »Ich muss kurz raus. Kommst du mit?«
    Auf dem Platz vor der Bank zündete er die Zigarette an und sog ein paar Mal kräftig daran, als bekäme er nur Luft durch den Filter. »Was geht hier vor, wie lange dauert das Chaos noch?«, wollte er wissen.
    »Gute Frage.«
    »Das wollte ich nicht wissen.«
    Ryan lachte. »Schon klar. Die Frage ist trotzdem gut, weil auch mein Orakel keine Antwort darauf hat. Unter den gegenwärtigen Bedingungen liefert das Modell nur noch sehr unscharfe Resultate. Etwa so, als wären deine Spreads zwischen Kaufs- und Verkaufskurs breiter als der Kurs selbst. Wir befinden uns in einer Art finanzieller Singularität, wo keine Theorie, kein Modell und keine Intuition mehr sinnvolle Voraussagen erlaubt. Mit andern Worten, mein lieber Greg: auch ich bin mit meinem Latein am Ende.«
    Greg musterte ihn misstrauisch, bis er begriff, dass es kein Scherz war, dann brummte er griesgrämig: »Das ist Scheiße, weißt du das?«
    »Wie du meinst.«
    »Reine Hysterie.«
    Ryan nickte nachdenklich. »Ja, sicher, aber keine gewöhnliche Hysterie, die nach ein paar Tagen wieder verebbt. Mir scheint eher, wir stehen vor einem gigantischen Bruch. Als lebten wir in einem alten Haus ohne Ausgang. Ich höre es knacken und knistern, aber ich habe keine Ahnung, wo uns die Decke zuerst auf den Kopf fällt – und wo wir uns in Sicherheit bringen könnten.«
    »Wahnsinn«, krächzte Greg. Er hustete, schnippte die Kippe elegant in den nächsten Gully und steckte die nächste Zigarette in den Mund.
    »Du hast auch schon weniger geraucht.«
    »Spielt jetzt keine Rolle mehr.«
    »Du könntest mir wenigstens für die letzten Tipps dankbar sein.«
    »Na ja, so richtig geglaubt hab ich’s nicht.«
    »Darum musstest du heute teuer einkaufen. Wirklich smart von dir. Aber jetzt weißt du, dass ich recht hatte.«
    »Beziehungsweise dein smarter Computer.«
    »Der macht nur, was ich ihm sage.«
    »Na dann.« Greg sah ihn eine Weile mit großen Augen an. »Der allwissende Ryan Cole hat keine Ahnung, wie es weitergeht«, murmelte er dann. Ein spöttisches Lächeln umspielte seinen Mund. »Willkommen in Krieg, mein Freund.«
    Ryans Handy klingelte. Nummer unterdrückt, kein Anrufer aus seiner Kontaktliste. Alex, vermutete er. An der US-Ostküste war es erst fünf Uhr morgens. Rief sie ihn neuerdings auch nachts an? Vielleicht wollte sie sich entschuldigen. Er hob ab.
    »Ryan, endlich, Gott sei Dank. Leg

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