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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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anzufassen. Seine Hand zitterte leise, als er zur Tasse griff. Der kalte Tee schmeckte nur noch bitter, doch er bemerkte es kaum. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Tausend Fragen stürzten gleichzeitig auf ihn ein. Woher stammte diese verfluchte Zeitung? Wer war Dr. Chen aus Taiwan wirklich? Wer hatte ihm den Hals umgedreht wie einem Suppenhuhn? Wo war der Killer jetzt? Und wieder die zwingende Frage, die er sich schon während des unseligen Telefongesprächs am Flughafen gestellt hatte: Bin ich der Nächste? Sicher war nur, dass der Mörder oder einer seiner Komplizen ihn trotz aller Vorsicht aufgespürt hatte. »Und er war in diesem Raum!«, rief er bestürzt. Wer sonst wusste von seiner Verbindung zum Taiwaner? Der Unbekannte hatte dieselbe Luft geatmet wie er jetzt. Ekelhaft. Er schoss hoch, riss die Fenster weit auf. Er ekelte sich vor dem Geruch, dem Sofa mit dem imaginären Abdruck des fremden Hintern. Die ganze Wohnung widerte ihn an. Hier durfte er nicht bleiben, keine Stunde länger.
    Hastig packte er im Schlafzimmer seine Reisetasche. Der größte Teil seiner bescheidenen Garderobe fand problemlos Platz. Zuletzt warf er den Bilderrahmen mit dem Foto seiner Jessie auf die Kleider. Der Reißverschluss war schon halb zu, als ihn beinahe der Schlag traf. Im Zeitlupentempo öffnete er die Tasche nochmals, als fürchtete er sich vor dem Inhalt. Er drehte den Bilderrahmen behutsam um. Keine Jessie. Ihr Foto war verschwunden. Als hätte er sich die Finger verbrannt, schleuderte er den leeren Holzrahmen aufs Bett. Auch das Schlafzimmer!, dachte er entsetzt. Warum wundert mich das nicht? Erst einen Augenblick später fuhr ihm der Schreck endgültig in die Glieder. Sie hatten Jessies Foto, mit Namen. Die Adresse brauchte nicht darauf zu stehen. Der Hintergrund des Bildes mit dem alten Hafen von Weymouth könnte nicht deutlicher sein.
    »Gottverdammte Huren...« Der wüste Fluch blieb ihm im Halse stecken. Der Gedanke, dass sie seiner Jessie auch nur ein Haar krümmen könnten, schnürte ihm die Kehle zu. Kurze Zeit stand er erstarrt vor dem Bett und blickte ins Leere, dann nahm er das Handy aus der Tasche und wählte mit klopfendem Herzen Jessies Nummer.
    »Langweilst du dich? «, grüßte sie fröhlich.
    »Jessie – wie geht es dir, alles in Ordnung?«
    »Was sagst du? Sorry, ist gerade einiges los hier.«
    »Bist du im ›Black Dog‹?«
    »Klar, an der Arbeit. Was für eine Frage. Alles in Ordnung bei dir?«
    »Ja – sicher.« Seine Stimme klang alles andere als sicher. Er hoffte, sie würde nichts von seiner Scheißangst mitbekommen. »Ich – wollte nur deine Stimme hören, Liebes.«
    »Bist du O. K.? Du klingst seltsam.«
    Sie hatte feine Antennen. Er hätte es wissen müssen. Keine gute Idee, sie anzurufen. Er wollte sie nicht unnötig beunruhigen. Wovor sollte er sie warnen? Er hatte selbst keine Ahnung, wie tief er in der Tinte steckte. Polizei? Nur das nicht. Bis ihm jemand seine Geschichte abkaufte, hätten sie beide längst ins Gras gebissen. Zu seinem Glück beantwortete sie ihre Frage gleich selbst:
    »Dich plagt etwas, das spüre ich. Lass uns am Wochenende darüber reden. Ich habe übrigens eine delikate Überraschung für dich, mein Lieber.«
    »Was denn?«
    »Eine Überraschung eben. Etwas, von dem man vorher nicht weiß ...«
    Sie schaffte es auch jetzt, ihm ein leises Lachen abzuringen. »Ja, schon gut. Ich habe verstanden.«
    »Hör mal, ich muss wieder an die Arbeit. Bis bald. Ich liebe dich.«
    Erleichtert steckte er das Telefon wieder ein. Ihre Stimme hörte sich glücklich und unbeschwert an. Beruhigen konnte ihn das kurze Gespräch trotzdem nicht. Ihm blieb keine ruhige Minute mehr, bis er sie wieder in die Arme schließen konnte. Zurück im Wohnzimmer hob er die verhängnisvolle Zeitung mit zwei Fingern auf und warf sie in die Reisetasche. Anstelle der Zeitung lag nun ein Zettel auf dem Tisch. Als reichte die Zeitungsmeldung nicht, um ihn in Angst und Schrecken zu versetzen, hatte jemand in ungelenker Blockschrift geschrieben:
     
    WILLST DU ENDEN WIE ER?
    LASS DIE FINGER DAVON
    WIR FINDEN DICH ÜBERALL!
     
    Das glaubte er aufs Wort. Er steckte auch diese überflüssige Warnung in die Tasche. Mit der letzten Milchflasche aus seinem Kühlschrank stieg er die Treppe hinunter und klopfte an die Tür der Hauswirtin.
    »Es tut mir leid, Sie zu stören, Mrs. Harper. Ich muss leider dringend weg.« Er streckte ihr die Flasche hin. »Seien Sie doch so nett und passen Sie ein wenig auf Mr.

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