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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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Meriwether auf. Danke.«
    »Mach ich sowieso ständig ...«
    Mehr hörte er nicht. Die Haustür fiel ins Schloss. Er wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. Nur weg hier, weg von seiner verseuchten Wohnung. Er verließ die einsame Dove Street und eilte zum City Centre hinunter. Erst die Gegenwart vieler Leute gab ihm eine gewisse Sicherheit. Er setzte sich auf eine Bank beim Busterminal und dachte nach. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Jessie belästigen?, fragte er sich allen Ernstes. Größer null, meinte sein Mathematikerhirn. Der gesunde Menschenverstand versuchte ihn zu beruhigen. Diese Wahrscheinlichkeit war so gering, dass man sie für alle praktischen Zwecke mit Null gleichsetzen konnte. Wieso aber das Foto? Soviel war klar: er brauchte jemanden zum Reden, sonst müsste er gleich den Therapeuten anrufen. Er wählte die Nummer seines Professors. Der Mann war ein Sonderling, aber sein Verstand eignete sich wie kaum ein zweiter, ihm vernünftige Ratschläge zu erteilen.
    »Irwyn, ich habe ein Problem«, sagte er ohne Umschweife.
    »Davon leben wir Wissenschaftler. Was ist los?«
    »Eine lange Geschichte. Ich kann nicht länger in meiner Wohnung bleiben. Hast du Zeit zum Reden?«
    Irwyn antwortete ohne Zögern: »Komm her – und vergiss die Zahnbürste nicht.«
     
    Broadgate, London      
     
    Ryan spürte einen leichten Stoß im Rücken.
    »Hallo, jemand zu Hause?«, wollte Greg wissen.
    Der Devisenhändler hatte ihn nach London geholt, weil er die Welt nicht mehr verstand. Doch statt sich um die Probleme auf dem Trading Floor der ›GLTBank‹ zu kümmern, hing Ryan seinen eigenen trüben Gedanken nach. Nun wohnte er also in Irwyn Saunders viktorianischem Erbstück im noblen Clifton, und nicht einmal Jessie wusste davon. Das Versteckspiel ging ihm gründlich auf den Sack. Manchmal hatte er das Gefühl, zwei Schritte neben sich zu stehen. Vor allem hinderte die ungemütliche Situation seinen Geist daran, normal zu funktionieren. Zum Beispiel zu antworten, wenn ihn jemand etwas fragte.
    »Hast du gehört, was ich sagte?«, doppelte Greg nach.
    »In diesem Krach versteht man kein Wort.«
    »Man müsste nur zuhören, Herr Experte. Scheiße, habe ich gesagt. Da ist eine pfundige Scheiße am dampfen. Der Sterling löst sich auf. Hat der Herr Experte eine Erklärung, wo die Reise hingeht?«
    »Wo steht der ›Footsie‹?«
    Greg schnaubte verächtlich. »Mich interessieren keine Aktien, junger Mann. Ich will wissen, was auf dem verdammten Devisenmarkt los ist.«
    Ryan schenkte ihm ein müdes Lächeln. »Weißt du, was dein Problem ist?«, fragte er ruhig.
    Diesmal hörte Greg ihm nicht zu. Seine geschulten Ohren hatten die abrupte Veränderung des Hintergrundgeräuschs registriert, das in den Lautsprechern an den Handelspulten knisterte. Angespannt lauschte er dem Stimmengewirr, von dem Ryan nur Bruchstücke verstand. Im nächsten Augenblick explodierte er. Quer über die Tische schrie er seinem Kollegen am Pfund/Schweiz-Desk zu: »Fünfzig Schweiz an mich!« Fluchend rannte er an seinen Platz zurück. »Der Job bringt mich um«, rief er über die Schulter zurück.
    Ryan beobachtete inzwischen die Quotes der aktivsten Händler für die Währungspaare Pfund Sterling gegen Schweizer Franken und Euro gegen Franken auf seinen Bildschirmen. Daneben hatte er die Übersicht über den Handel an der Londoner Aktienbörse abgerufen. Die Unruhe an den Desks, wo der ohnehin hektische Spothandel der europäischen Währungen stattfand, steigerte sich zu einem Tumult. Gleichzeitig sah er den Grund der plötzlichen Aufregung auf dem Bildschirm. Die Lawine kam ins Rollen. Der Wert des Pfunds gegenüber dem harten Schweizer Franken sank innert Minuten um fast eine ›Big Figure‹, von 1.2973 Franken pro Pfund auf 1.2885. Fast einen Rappen. Immerhin eine Million Schweizer Franken, umgerechnet auf vielleicht hundert Millionen Pfund, die in den gleichen paar Sekunden gehandelt wurden. Die Aufregung war verständlich, fand Ryan und widmete sich wieder seinen Charts. Die erwartete zweite Welle der Panikverkäufe von Pfund, Euro, Dollar und Yen war angekommen; hier, in diesem riesigen Raum, vollgestopft mit modernster Elektronik, bevölkert von einem Schlag vorwiegend junger, hungriger Trader, deren Leidenschaft jeder Außenstehende nur als Gier und Spielsucht wahrnahm. Sein Modell hatte auch diese Welle korrekt vorausgesagt. Nur die Frage, wann genau die Sturmflut die Handelsräume rund um den Globus überschwemmen

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