Im Zauber der Gefuehle
war sehr anstrengend, da Nick darauf bestand, so wenige Pausen wie möglich einzulegen. Lottie empfand die stundenlange Kutschfahrt auf den unebenen Straßen als belastend, und das ewige Geschaukele des Wagens verursachte ihr Übelkeit.
Ein provisorischer Dienstbotenstab war tags zuvor entsandt worden, um für Küchenvorräte zu sorgen und die
Zimmer herzurichten. Die Cannons würden dem Anwesen am folgenden Morgen einen Besuch abstatten, da der Landsitz von Sir Ross in Silverhill nur eine Stunde entfernt lag.
Das letzte schwache Leuchten der untergehenden Abendsonne verblasste am Himmel, als die Kutsche Worcestershire erreichte. Jeder andere Besucher würde mit Sicherheit freudig auf die Schönheit der Landschaft reagieren, doch Nick wurde immer mürrischer, und jede Umdrehung der Räder, die sie den Familienländereien näher brachte, schien seinen dumpfen Widerwillen noch zu verstärken.
Da bogen sie endlich in eine lange, schmale Auffahrt ein, die sich eine Meile lang hinzog, bevor das prächtige Herrenhaus in Sicht kam. Die Außenlampen warfen ein warmes Licht über den Eingang und ließen die vorderen Fenster wie schwarze Diamanten glitzern. Neugierig schob Lottie die Vorhänge an den Kutschenfenstern zur Seite, um besser sehen zu können.
»Es ist wunderschön«, sagte sie, während ihr vor freudiger Aufregung das Herz höher schlug. »Genau, wie Sophia es beschrieben hat.« Das große, im palladianischen Stil erbaute Haus war stattlich, wenn auch nicht außergewöhnlich, eine beeindruckende Kombination aus rotem Backstein, weißen Säulen und symmetrisch angeordneten Ziergiebeln. Für Lottie war es Liebe auf den ersten Blick.
Die Kutsche hielt vor dem Haupteingang, und Nicks Miene blieb ausdruckslos, als er das Gefährt verließ und Lottie beim Aussteigen half. Sie erklommen die Stufen zu der zweiflügligen Tür, und Mrs. Trench hieß sie in einer gewaltigen, ovalen Eingangshalle willkommen, deren Boden aus glänzendem, rosenfarbenem Marmor bestand.
»Soll ich Euch nach oben führen?«, erkundigte sich die
Haushälterin nach der Begrüßung. »Oder möchtet Ihr zuerst etwas zu Abend ...« Sie verstummte, als sie Nick ansah.
Als Lottie dem Blick der Haushälterin folgte, stellte sie fest, dass ihr Mann die Eingangshalle wie gebannt anstarrte. Vor seinem geistigen Auge schien ein Schauspiel abzulaufen, das die beiden Frauen nicht sehen konnten. Sein Gesicht war gerötet, als habe er Fieber. Wortlos wanderte er durch den großen Raum, als sei er allein, und erforschte jeden Winkel mit der zögerlichen Neugier eines kleinen Jungen, der sich verlaufen hatte.
Lottie wusste nicht, wie sie ihm hellen sollte. Der Haushälterin eine möglichst beiläufige Antwort zu geben, war eines der schwierigsten Dinge, die sie je in ihrem Leben hatte tun müssen, doch es gelang ihr. »Nein, danke, Mrs. Trench. Ich denke nicht, dass wir noch etwas essen möchten. Vielleicht könnten Sie uns etwas Wasser und eine Flasche Wein aufs Zimmer schicken und den Dienstmädchen sagen, dass sie schon einmal ein paar Sachen für heute Nacht auspacken sollen. Der Rest hat bis morgen früh Zeit. Inzwischen werden Lord Sydney und ich uns etwas umsehen.«
»Sehr wohl, Mylady. Ich werde dafür sorgen, dass man das Wichtigste auf der Stelle auspackt.« Mit diesen Worten zog sich die Haushälterin zurück.
Da der Kronleuchter über ihnen nicht brannte, wurde das schattige Dunkel lediglich von zwei Lampen aufgehellt. Lottie folgte ihrem Mann und trat durch einen Torbogen, der in eine Gemäldegalerie führte. In der Luft lag der frische Geruch neuer Teppiche und erst kürzlich getrockneter Farbe.
Lottie betrachtete Nicks Profil, als er die auffallend leeren Wände der Galerie musterte. Sie vermutete, dass er sich an die Porträts erinnerte, die einst hier gehangen hatten. »Es sieht so aus, als müssten wir einige Kunstwerke ersteigern«, stellte sie fest.
»Sie wurden alle verkauft, um die Schulden meines Vaters zu bezahlen.«
Lottie trat auf ihn zu und schmiegte die Wange an den feinen Wollstoff seines Jacketts, wo seine Schulter in den muskulösen Oberarm überging. »Zeigst du mir das Haus?«
Lange Zeit sagte Nick nichts. Als er schließlich in ihr nach oben gewandtes Gesicht blickte, gewahr sie das düstere Wissen in seinen Augen, dass von dem Jungen, der einst hier gelebt hatte, nichts mehr übrig war. »Heute nicht. Erst muss ich es mir alleine ansehen.«
»Das verstehe ich«, erwiderte Lottie und legte ihre Hand in die seine.
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