Im Zauber der Gefuehle
heiraten?«, meinte Gentry, wobei er sie eingehend musterte. »Einen Mann mit bescheidenem Einkommen?«
»Ich bin es gewöhnt, in bescheidenen Umständen zu leben. Meine Familie mag von blauem Blut sein, doch wie ich zuvor schon erwähnte, sind wir mittellos.«
Gentrys Blick ruhte auf den polierten Spitzen seiner Stiefel. »Dem Zustand von Howard House nach zu schließen, war Lord Radnor ein verdammt knauseriger Wohltäter.«
Lottie atmete tief durch. »Du warst bei meiner Familie zu Hause?«
Er blickte in ihre großen Augen. »Ja, ich habe deine Eltern besucht, um ihnen einige Fragen zu stellen. Sie wussten, dass ich nach dir suche.«
»Oh«, meinte Lottie bestürzt. Es war vorauszusehen gewesen, dass ihre Eltern bei den Nachforschungen behilflich sein würden. Sie wussten, dass Lord Radnor Lottie finden wollte, und wie immer war ihnen sein Wunsch Befehl gewesen. Von daher hätte die Neuigkeit sie nicht überraschen dürfen und dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, verraten worden zu sein. Hatten sie auch nur einen Augenblick lang darüber nachgedacht, was für ihre Tochter das Beste war? Ihre Kehle war auf einmal wie ausgetrocknet, und das Schlucken fiel ihr schwer.
»Sie beantworteten alle meine Fragen bis ins kleinste Detail«, fuhr Gentry fort. »Ich sah die Puppen, mit denen du einst spieltest, das Märchenbuch, in das du gemalt hast ... sogar deine Schuhgröße kenne ich.«
Schützend schlang Lottie, die sich mit einem Mal schrecklich verletzlich fühlte, die Arme um sich. »Es ist komisch, dass du meine Familie gesehen hast, während ich schon seit zwei Jahren von ihnen getrennt bin. W... wie geht es meinen Schwestern und Brüdern? Wie geht es Ellie?«
»Die Sechzehnjährige? Sie ist ruhig. Hübsch. Allem Anschein nach bei bester Gesundheit.«
»Sechzehn«, murmelte Lottie, die mit der Erkenntnis zu kämpfen hatte, dass ihre Geschwister genau wie sie selbst älter geworden waren. Sie alle hatten sich während ihrer Abwesenheit verändert. Auf einmal hatte sie Kopfschmerzen, und sie massierte sich gequält die Stirn. »Als meine Eltern von mir sprachen, waren sie ...«
»Was?«
»Hassen sie mich?«, wollte sie aufgewühlt wissen. »Ich habe mich schon so oft gefragt ...«
»Nein, sie hassen dich nicht.« Seine Stimme nahm eine seltsam sanfte Färbung an. »Natürlich sind sie darauf bedacht, ihre eigene Haut zu retten, und sie scheinen wirklich zu glauben, dass du großen Nutzen aus einer Ehe mit Radnor ziehen würdest.«
»Sie haben nie begriffen, wie er wirklich ist.«
»Sie wollen es nicht, dazu war es bisher viel zu vorteilhaft für sie, sich selbst zu belügen.«
Lottie war versucht, ihn zurechtzuweisen, obwohl sie genau dasselbe mindestens tausend Mal zuvor selbst gedacht hatte. »Sie brauchten Lord Radnors Geld«, sagte sie matt. »Sie haben einen kostspieligen Geschmack.«
»Hat dein Vater auf diese Weise das Familienvermögen verloren? Indem er über seine Verhältnisse lebte?«
»Ich bezweifle, dass es je ein nennenswertes Vermögen gegeben hat, aber meine Eltern haben alles ausgegeben, was ihnen zur Verfügung stand. Ich kann mich noch daran erinnern, dass wir immer das Beste von allem hatten, als ich ein Kind war. Und als dann das Geld weg war, wären wir beinahe verhungert. Bis Lord Radnor eingriff.« Sie rieb sich weiterhin die Stirn, wobei sie die Finger zu den schmerzenden Schläfen gleiten ließ. »Man könnte ohne weiteres sagen, dass mir sein Interesse zum Vorteil gereichte. Dank Radnor wurde ich auf die exklusivste Mädchenschule in ganz London geschickt, er zahlte für mein Essen, meine Kleidung und stellte sogar eine Zofe an, die sich um mich kümmern sollte. Ich dachte, er wollte eine Lady aus mir machen, und war anfangs sogar dankbar, dass er mich so sorgfältig darauf vorbereitete, seine Frau zu werden.«
»Doch die Sache wurde komplizierter«, murmelte Gentry.
Sie nickte. »Man behandelte mich wie ein Haustier, das an der Leine gehalten wird. Radnor entschied, was ich lesen konnte, was ich essen durfte ... er ordnete meinen Lehrerinnen an, dass ich eiskalt zu baden habe, da er glaubte, dass dies der Gesundheit förderlicher sei als ein warmes Bad. Ich bekam nur Brühe und Obst vorgesetzt, sobald er der Meinung war, ich müsse abnehmen. Jeden
Tag musste ich ihm in einem Brief schreiben, welche Fortschritte ich in den Fächern erzielt hatte, die ich seinem Willen nach studieren sollte. Es gab Regeln zu allem ... Ich durfte nicht den Mund aufmachen, wenn meine
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