Im Zauber der Gefuehle
erstarrt, die sie während der zwei Jahre auf der Flucht immer im Nacken gespürt hatte. Er bot sich ihren vor Furcht geweiteten Augen nur im Profil, doch sie konnte das graue Haar, die hochmütige Haltung des Kopfes und die schwarzen Balken seiner Brauen gut erkennen. Da drehte er sich in ihre Richtung, als habe er ihre Anwesenheit in dem überfüllten Saal gespürt.
Auf der Stelle verwandelte sich ihre stumme Panik in Verwirrung: Nein, es war nicht Radnor, sondern lediglich ein Mann, der ihm ähnlich sah. Der Gentleman nickte ihr lächelnd zu, wie es Fremde manchmal taten, wenn sich ihre Blicke unerwartet trafen. Als er sich im nächsten
Moment wieder seinen Begleitern zuwandte, blickte Lottie auf ihre zu Fäusten geballten Hände in den blassrosa Handschuhen und versuchte verzweifelt, sich trotz des wild in ihrer Brust hämmernden Herzens zu beruhigen. Da trafen sie die Nachwirkungen des Schocks: leichte Übelkeit, ein dünner Film kalten Angstschweißes und ein Zittern, das sich nicht legen wollte. Wie lächerlich du dich verhältst, schalt sie sich voller Entrüstung über die Tatsache, dass sie derart überreagierte, weil sie einen Mann gesehen hatte, der wie Radnor aussah.
Zu ihrer Erleichterung gesellte sich Nick bald darauf wieder zu ihr, ein Glas Limonade in der Hand. Er spürte auf der Stelle, dass etwas nicht stimmte, und legte ihr schützend einen Arm um die Taille. »Was ist los?«, wollte er wissen, indem er ihr forschend in das blasse Gesicht sah.
Mrs. Howsham, eine Bekannte Gentrys, die ganz in der Nähe stand, mischte sich fürsorglich ein. »Bestimmt ist das Korsett zu eng geschnürt, Mr. Gentry ... das grausame Schicksal modebewusster Frauen! Ich schlage vor, Ihr bringt Eure reizende Gattin ein wenig an die frische Luft.«
Den Arm immer noch an Lotties Rücken, geleitete er sie durch den Saal. Die Nachtluft ließ Lottie erzittern, da ihre schweißdurchtränkte Kleidung auf der Stelle klamm wurde. Vorsichtig zog Nick sie in den Schutz einer breiten Säule, die das Licht und den Lärm aus dem Innern des Gebäudes abhielt.
»Es war nichts«, meinte Lottie beschämt. »Überhaupt nichts. Ich fühle mich wie eine dumme Gans, so ganz ohne Grund einen derartigen Wirbel zu verursachen.« Dankbar nahm sie die Limonade entgegen und trank sie hastig leer.
Nick bückte sich, um das Glas am Boden abzustellen, und als er sich wieder erhob, wischte er ihr mit einem Taschentuch die Schweißperlen von Wangen und Stirn, wobei er sie besorgt musterte. »Erzähl mir, was passiert ist«, sagte er leise.
Schamesröte schoss Lottie in die Wangen. »Ich dachte, ich hätte dort drinnen Lord Radnor gesehen, doch es war lediglich ein Mann, der ihm sehr ähnlich sah.« Sie stieß einen Seufzer aus. »Nun weißt du, welch ein Feigling ich bin. Es tut mir Leid.«
»Radnor zeigt sich so gut wie nie in der Öffentlichkeit«, murmelte Nick. »Es ist unwahrscheinlich, dass du ihn je bei einer Gelegenheit wie dieser treffen wirst.«
»Ich weiß«, sagte sie zerknirscht. »Unglücklicherweise habe ich nicht so weit gedacht.«
»Du bist kein Feigling.« In seinen dunkelblauen Augen spiegelte sich Sorge wider ... Sorge, hinter der sich ein noch stärkeres, mysteriöses Gefühl verbarg.
»Ich habe mich wie ein Kind benommen, das Angst vor der Dunkelheit hat.«
Seine Finger glitten unter ihr Kinn, und er zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Es ist durchaus vorstellbar, dass du Radnor eines Tages begegnest«, erklärte er sanft. »Doch ich werde bei dir sein, wenn es passiert, Lottie. Du brauchst keine Angst mehr vor ihm zu haben. Bei mir bist du in Sicherheit.«
Sie staunte über den zärtlichen Ernst in seiner Miene. »Danke«, erwiderte sie und atmete zum ersten Mal tief durch, seitdem sie den Saal verlassen hatten.
Nick starrte weiter in ihr blasses, feucht glänzendes Gesicht und schüttelte stirnrunzelnd den Kopf, als verursache ihm der Anblick ihrer Pein körperliche Schmerzen. Instinktiv griff er nach ihr und zog sie an sich, wobei er die Arme fest um sie schlang und versuchte, ihr durch seinen Körper Trost zukommen zu lassen. Die Umarmung hatte nichts Sexuelles an sich, doch auf unerklärliche Weise war sie intimer als alles, was sie bisher gemeinsam erlebt hatten. Seine Arme waren stark und besitzergreifend, und er hielt sie fest umschlossen, während sein Atem ihr in heißen Stößen über den Nacken strich.
»Soll ich dich nach Hause bringen?«, flüsterte er.
Langsam nickte Lottie, die das Gefühl hatte,
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