Im Zauber des Highlanders
achtundvierzig Stunden war sie zu den höchsten Höhen aufgestiegen und in den tiefsten Abgrund gestürzt. Sie war glückselig gewesen, weil sie so dumm war anzunehmen, sie hätte ihren Seelengefährten gefunden, nur um zu erfahren, dass dieser Gefährte in zwei Wochen sterben würde und dass sie gezwungen war, das Ganze aus nächster Nähe zu beobachten.
Dageus und Drustan hatten ihr verboten, das Schloss zu verlassen. Sie durfte nicht weg, es sei denn, die Keltar-Brüder baten sie darum. Sie glaubten, Lucan würde sie entweder benutzen, um zu Cian zu gelangen oder sie sofort töten. Und warum sollte sich Cian um ihre körperliche Unversehrtheit sorgen, wenn es ihm nichts ausmachte, ihr das Herz zu brechen? Sie selbst glaubte eher, dass Lucan ihr nach dem Leben trachten würde, und da sie nicht sterben wollte, musste sie wohl oder übel hier bleiben.
Und das bedeutete, dass sie zusehen musste, wenn ihr Highlander starb.
»Dageus und Drustan suchen nach einem anderen Ausweg, Jessi«, sagte Gwen sanft. »Nach einer Alternative, um Cian aus dem Spiegel zu befreien und Lucan zu überwältigen.«
»Glaubst du, sie werden etwas finden, wenn schon Cian keine andere Möglichkeit kennt? Nichts gegen deinen Mann und seinen Bruder, aber Cian scheint hier der Einzige zu sein, der etwas von schwarzer Magie und Zauberei versteht.«
»Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben, Jessi.«
»Warum nicht? Cian hat es getan«, gab sie verbittert zurück. »Er ist bereit zu sterben.«
Gwen sog scharf die Luft ein. »Er weiß nicht, wie er Lucan sonst aufhalten kann, Jessi. Zumindest im Moment noch nicht. Lass meinen Mann und Dageus daran arbeiten. Du wärst überrascht, wenn du wüss test, was die beiden zu vollbringen imstande sind. Du darfst Cian nicht für diese Sache hassen. Oh, es war nicht recht, dass er es dir verschwiegen hat - das streite ich nicht ab. Ich wäre auch am Boden zerstört. Und wütend. Und verletzt. Und noch einmal am Boden zerstört, wütend und verletzt. Ich finde aber, du solltest darüber nachdenken, warum er dir nichts gesagt hat. Du bist etwas über zwanzig Jahre alt, stimmt's?«
Jessi nickte. Unten im Park ging Cian auf ein kleines Eschenwäldchen zu. Er bewegte sich geschmeidig wie ein Tier durch den weißen Nebel. »Vierundzwanzig.«
»Nun, er hat - warte - siebenundvierzig Komma sechs, also fast fünfzigmal so lange wie du, gefangen in einem Spiegel, gelebt. Es war nicht einmal der Schatten eines Lebens. Mehr als tausend Jahre war er allein, eingekerkert, machtlos. Er hat uns gestern Abend nach dem Essen, als du dich schlafen gelegt hast, ein bisschen von seinem Dasein erzählt. Er verspürt keine körperlichen Bedürfnisse in seinem Verlies. Er hatte nichts, womit er sich die Zeit vertreiben konnte. Lucan hat nie ein Wort über Cians Clan verloren, nachdem er ihn gefangen gesetzt hatte. Ein Jahrtausend musste Cian glauben, dass Lucan seine gesamte Familie ausgelöscht hat, dass die Keltar ausgestorben seien. Deshalb kam er nicht auf die Idee, nach Nachkommen zu suchen, und deshalb dachte er bei der ersten Begegnung überhaupt nicht daran, dass Dageus ein Keltar sein könnte. Die einzige Gesellschaft, die er in dem Kerker hatte, waren seine bittere Reue und die Entschlossenheit, Lucan eines Tages zu töten. Und endlich bot sich ihm die Gelegenheit dazu. Ist es da ein Wunder, dass er eher bereit ist zu sterben, wenn er dadurch seinem Erzfeind das Handwerk legen kann, statt in dieser Hölle weiterzuleben? Mir ist schleierhaft, dass er nicht schon vor Jahrhunderten wahnsinnig geworden ist.«
Tränen brannten in Jessis Augen. Dabei hätte sie geglaubt, dass sie sich gestern vollkommen ausgeweint hatte. Auch sie hatte sich gefragt, wie Cian in dem Verlies bei Verstand bleiben konnte. Doch dann wurde ihr klar, dass er stark war wie ein Berg.
Der gestrige Tag war der schrecklichste ihres Lebens gewesen. Wenn sie all die Tränen, die sie in vierundzwanzig Jahren - angefangen vom ersten Protestschrei nach der Geburt über die Heulereien in ihrer Kindheit und Jugend bis hin zu den Tränen als Erwachsene - vergossen hatte, hätte auffangen können, wären sie nicht mehr als ein Tropfen gewesen im Vergleich zu dem Meer von Tränen, das sie gestern geweint hatte.
Nachdem Dageus ihr erklärt hatte, was Cian plante, war sie aus der Bibliothek gerannt, so schnell sie ihre Füße trugen. Sie versuchte, aus dem Schloss zu fliehen. Dageus holte sie jedoch ein und hielt sie zurück, um sie behutsam in das Zimmer zu
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