Im Zeichen der Angst Roman
darauf, zu ihr zurückzukehren.«
»Nachdem meine Mutter sich mit meinem Vater verlobt hatte, verschwand auch er.«
»Ja«, sagte Rena.
»Danach wart ihr tanzen?«
»Wir waren immer tanzen. Mittwochs, freitags und samstags. So war das eben. Es gab ja noch kein Fernsehen. Nein, dein Vater war da noch nicht weg.«
»Wie bitte?«, sagte ich. »Aber Rauh sagte doch …«
»Dein Vater sagte es«, korrigierte Rena. »Aber so war es nicht. Dein Vater war an dem Abend einfach nicht dabei. Deshalb war deine Mutter ja so besonders aufgedreht und übermütig. Meinhard hat sie dann eben gezwungen, mit ihm zu schlafen. Danach erst hat dein Vater sich mit ihr verlobt. Ich glaube, sie wollte es, weil sie da schon Angst hatte, sie könnte schwanger sein. Wenn du deine Halbschwester fragst, wirst du sehen, dass dein Vater abgeholt worden ist und deine Mutter zeitlich niemals erst danach schwanger geworden sein kann.«
»Und du?«, fragte ich.
»Ich wusste, dass sie schwanger war. Sie übergab sich in den ersten drei Monaten ständig, und als das dann auf hörte, begann sie zu hungern. Sie hoffte wohl, dass das dem Kind in ihrem
Bauch den Garaus machte. Doch als das nichts nutzte, ist sie nach Berlin gegangen, bevor man den Bauch sah. Ich weiß bis heute nicht, wie sie sich da über Wasser gehalten hat.«
»Nachdem sie auch noch deinen Vater abgeholt hatten«, sagte Martin. »Da erst ist sie nach Berlin.«
»Ja«, sagte Rena. »Da wurde wohl selbst ihr klar, was sie den Jungs angetan hatte mit diesen miesen Flirtereien und dass sie mit diesem Bastard niemals einen Mann finden würde, der sie heiratete, und dein Vater stand ja nicht mehr zur Verfügung.«
»Aber sie konnte doch nichts dafür, dass Meinhard …«
»Doch«, sagte Rena und warf Martin einen herausfordernden Blick zu. »Sie konnte sehr wohl etwas dafür. Sie hat die Jungs scharf gemacht mit ihren braunen Augen und diesen tiefen Blicken, die sie ihnen immer zuwarf. Mit diesen aufreizenden Gesten, mit denen sie sich immer über die Blusen und Kleider strich, als sei ihr zu warm. Angemacht hat sie sie. So nennt man das wohl heute. Es war ihr völlig egal, ob ich dabei war oder nicht. Sie war der Mittelpunkt des Geschehens. Mehr wollte sie nicht, und ob sie dabei jemanden verletzte oder nicht, war ihr egal.«
»Sie war jung«, sagte Martin. »Sei nicht so ungerecht.«
»Kanntest du sie da auch schon?«, fragte ich Martin.
Martin nickte. »Ich war eine Klasse über Rena und deiner Mutter. Aber mich haben sie damals nicht für voll genommen.«
Rena sah ihn an, und für einen Augenblick blitzte auch in ihrem Gesicht etwas auf, das man als tiefe Zuneigung bezeichnen konnte.
»Wieso ist sie aus Berlin zurückgekommen?«, fragte ich.
Rena zuckte mit den Achseln. »Vielleicht wollte sie nur das Kind loswerden, vielleicht hat es dort mit dem Geld nicht geklappt. Ich weiß es nicht. Ich hab damals nicht mehr mit ihr gesprochen.«
»Da waren wir schon zusammen«, sagte Martin, und Rena nickte.
»Ja«, sagte sie. »Martin hat mich gerettet. Als Meinhard mich
zum letzten Mal wegen deiner Mutter sitzenließ, war Martin einfach für mich da.«
Sie lächelte ihn mit einer Zärtlichkeit an, die ich an ihr noch nie wahrgenommen hatte, und er strich ihr sanft über die Wange.
»Und als mein Vater aus der Gefangenschaft zurückkam?«
»Da war Johann schon tot, und da hat wohl selbst deine Mutter begriffen, wohin sie die Menschen mit ihren Spielereien gebracht hatte.« Sie schwieg einen Moment und drückte die Zigarette aus. Sie war bis zum Filter heruntergebrannt. »Als dein Vater zurückkam, hätte Meinhard ihm immer noch sonst was andichten können. Aber er hatte es sich inzwischen anders überlegt. Er arbeitete da schon lange hier im Rathaus. Und weißt du, in welcher Abteilung?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Wo alle arbeiten wollten. Wo man sich die Filetstücke raussuchen konnte. Er arbeitete in der Abteilung, die die Haushalte derer auflöste, die in den Westen abgehauen waren. Das waren damals, als die Russen nach den Amerikanern hier ankamen, eine ganze Menge. Sie ließen alles stehen und liegen und verschwanden über Nacht.«
Ich dachte an die Bibliothek in der riesigen, viergeschossigen Jugendstilvilla, an der ich am Nachmittag vorbeigefahren war. Sie hatte ursprünglich einem Fabrikanten gehört, der vor dem Krieg mit Lederkoffern und Reisetaschen ein Vermögen gemacht hatte. Während der DDR-Zeit hatte die Villa einen Kindergarten beherbergt, doch nun war sie
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