Im Zeichen der Angst Roman
der Rauch in kleinen, runden Wölkchen aus ihrem Mund, als hätte sie nie mit dem Rauchen aufgehört.
»So war das nicht«, sagte sie. »Er hat sie nicht vergewaltigt. Nicht so jedenfalls, wie du denkst.«
»Rena«, sagte Martin, sah sie an und schüttelte den Kopf.
»Was willst du?«, fauchte sie, verschluckte sich am Rauch und hustete.
»Liebling, meinst du nicht, es reicht langsam?«
»Misch dich da nicht ein«, sagte sie und wischte sich eine Träne aus dem Auge.
Martin stand wortlos auf und verließ die Küche. Ich hörte, wie er auf dem Flur einen Lichtschalter betätigte und eine Tür öffnete. Ich lauschte seinen leiser werdenden Schritten über die Holztreppe nach unten in den Keller.
»Rena«, sagte ich. »Ich weiß, dass du meine Mutter nicht mochtest. Ich weiß auch, dass du mich nicht magst. Aber ich bitte dich, hilf mir. Meine Mutter wurde ermordet, meine Tochter entführt. Wenn auch dieses Kind stirbt, dann überlebe ich das nicht.«
Rena drehte nervös die Zigarette in den Händen und schwieg. Es beunruhigte mich, ohne dass ich wusste warum.
»Appelliere nicht an mein Mitleid. Auch ich habe einen Sohn verloren und eine Enkelin - beides hätte nicht sein müssen. Hätte er dich nicht geheiratet …«
»Rena«, unterbrach ich sie schärfer, als ich wollte, »hätte er mich nicht geheiratet, hätte er ganz wunderbare Jahre verpasst, und er hätte seine Töchter nie kennen gelernt.«
»Und Johanna nie verloren. Es hat ihn zerstört.«
»Wir waren viele Jahre glücklich«, erwiderte ich. »Unsere Ehe hat der Schmerz zerstört, nicht ein Mangel an Liebe oder Vertrauen.«
»Sie wäre nie entführt worden, wenn du nicht unbedingt nach Hamburg gewollt hättest. Ein Provinzblatt war dir ja nicht fein genug. Du musstest unbedingt hoch hinaus. Mein Sohn wollte nie in eine Großstadt. Niemals!« Sie sprach hastig, als hätte sie Angst, ich würde sie wieder unterbrechen, und sie könnte ihre Sätze nicht beenden.
Mir brach der Schweiß aus. Ich stand tatsächlich kurz davor, sie anzuschreien oder ihr zu sagen, wie sehr ihr Sohn es gehasst hatte, hier in dieser Einöde zu leben, ohne Museen, ohne Theater, ohne Ausstellungen, ohne das Flair und den Charme einer lebendigen, vitalen großen Stadt mit ihren Restaurants, Kneipen und Bars. Wie sehr er es gehasst hatte, dass sie ständig bei uns vorbeikam oder anrief. Sie hatte immer einen Anlass gefunden.
Doch ich beherrschte mich. Die Frau vor mir war so alt wie meine Mutter, und sie hatte ihren einzigen Sohn verloren. Ich verstand ihre abgrundtiefe Trauer, und ich verstand sogar, dass der Tod ihres Sohnes für sie leichter zu ertragen war, wenn sie mir die Schuld gab.
»Ich glaube, dass der Tod meiner Mutter und die Entführung meiner beiden Töchter miteinander zu tun haben. Ich möchte Josey zurückhaben. Verstehst du das nicht? Wenn ihr etwas passiert, weil ich nicht alles getan habe, um ihr zu helfen, dann überlebe ich das nicht.«
Meine Augen füllten sich mit Tränen, und ich drehte den Kopf zu Seite.
»Hilf mir bitte«, fuhr ich leise fort. »Erzähl mir, was damals passiert ist. Ich weiß, dass meine Mutter dir Meinhard ausgespannt hat. Ich denke, das war nicht richtig«, fuhr ich fort. »Aber sie war noch so jung, und der Zweite Weltkrieg war gerade vorbei.«
»Der Krieg.« Sie legte den Kopf zur Seite, und es schien, als lausche sie dem Klang des Wortes hinterher. »Der Krieg. Was hat der damit zu tun? Deine Mutter war ein Flittchen. Das war sie mit oder ohne Krieg. Der Krieg kann nicht alles rechtfertigen.« Ihre Stimme war leise und nun ohne Schärfe und Aggressivität. Ich wusste nicht, was mich mehr beunruhigte.
»Ihr Vater ist 1944 an der Ostfront gefallen«, sagte ich. »Du weißt genau, wie sehr sie an ihm hing. Ihre Mutter hatte nie Zeit für sie, weil sie den ganzen Tag arbeitete. Sie wollte doch nur Zuwendung und etwas Aufmerksamkeit.« Ich wusste, dass es in Renas Ohren schwache Argumente waren.
»Mein Vater und mein älterer Bruder sind ebenfalls gefallen«, erwiderte sie auch schon. »Aber das darf keine Ausrede für ihre überspannten Jungsgeschichten sein.«
»Wenn man jung ist, darf man Fehler machen«, sagte ich fast bittend.
»Ja?«, fragte sie mit resigniertem Unterton. »Darf man das? Oder nur deine Mutter?«
Sie zog an der Zigarette und inhalierte den Rauch dann so hektisch, als ginge es um ihr Leben. Ich sah ihr zu und wartete.
»Meinhard Laufer, um den geht es ja wohl«, sagte sie nach einer Weile. »Um den
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